Winterregen (Weirdos) - Eine Story von Robin

 

Kapitel 24 - Zurück

Am nächsten Morgen wurde ich früh von Kevin geweckt. Der sah aus, als wäre er schon seit längerer Zeit auf den Beinen.

»Hey, wach auf, wir haben heute noch was vor!« rief er mir direkt ins Ohr und rüttelte an meiner Schulter, um sicherzustellen, dass ich auch wirklich munter wurde.

»Was ist denn? Es ist erst Acht. Unser Zug fährt erst kurz nach Elf!« entgegnete ich gereizt nach einem verschlafenen Blick auf den Wecker.

»Ich will noch wo vorbeischauen«, erwiderte er. Seine Stimme klang auf einmal ängstlich.

»Wo denn?«

»Ich will da jetzt noch nicht drüber reden. Ich weiß nicht, ob ich’s wirklich schaffe.«

Ich konnte mir keinen Reim auf sein Verhalten machen, fragte aber nicht weiter nach und stieg aus dem Bett. Kevin hatte unten schon Ordnung gemacht und sogar ein provisorisches Frühstück vorbereitet, das wir schnell verzehrten.

Wir verließen das Haus viel früher als ursprünglich geplant. Draußen erwartete uns ein trüber Sonntagvormittag. Es war erstaunlich warm und ich war froh, nur ein T-Shirt unter der Jacke zu tragen. Statt den Weg, auf dem wir gestern hierher gekommen waren, wieder zurückzugehen, schlugen wir an diesem Tag eine andere Richtung ein. Kevin wollte immer noch nichts von seinem Vorhaben preisgeben, so dass wir meist schweigend durch die Siedlung liefen. Mit der Zeit wurden die Grundstücke kleiner und die Häuser biederer. Irgendwann bogen wir von der breiten Wohnstraße in einen kleinen Seitenweg ab, der sich bald als Sackgasse entpuppte. Kevin blieb vor einem Gartentor stehen und drückte dort auf die Klingel. Nur wenige Augenblicke später trat eine Person aus der nahegelegenen Haustür. Sofort erkannte ich die roten Haare und die schwarze Jacke wieder. Enrico wohnte hier!

»Hey, ihr seid ja schon da«, rief er uns zu und wünschte uns einen guten Morgen.

Nachdem er das Haus abgeschlossen hatte, kam er zu uns herüber. Obwohl ich von seinem Auftauchen völlig überrascht war, lächelte ich ihm sofort erfreut zu. Ich hatte nicht damit gerechnet, ihn an diesem Wochenende noch einmal zu sehen, und war mir nicht wirklich sicher, ob ich dieses Aufeinandertreffen wirklich wollte. Schon in der vergangenen Nacht war mir der Abschied schwer genug gefallen. War das etwas Kevins Plan gewesen? Waren wir nur deswegen so früh aufgebrochen, damit ich noch Zeit mit Enrico verbringen konnte? Ich verwarf diese Theorie sofort wieder, weil Kevin am Morgen viel zu ernst gewesen war und auch jetzt noch angespannt wirkte.

Wir setzten unseren Weg zu dritt fort, angeführt von Kevin, der weiter ziemlich still blieb.

»Oh Mann«, entfuhr es Enrico auf einmal. »Jetzt weiß ich, wo du hinwillst!«

Kevin seufzte.

»Bist du sicher, dass du das schaffst?« fragte Enrico nach.

»Ich muss da einfach hin«, antwortete Kevin gequält. »Und mit euch zwei zusammen werd’ ich das ja wohl schaffen!«

Ich hatte keine Ahnung, wovon er redete. Erst als ich auf einem Wegweiser das Wort ‚Waldfriedhof’ entdeckte, dämmerte es mir, dass wir zum Grab seines Bruders unterwegs waren. Auch ich war mir nicht sicher, ob das eine gute Idee war. Kevin war nicht auf der Beerdigung gewesen. Wahrscheinlich hatte er das Grab noch nie gesehen. Ob er überhaupt wusste, wo genau es lag? War Enrico etwa deswegen mitgekommen?

Als wir schließlich vor dem Gelände standen, war mir nicht wohl dabei, ebenfalls mit hineinzugehen. Schließlich hatte ich seinen Bruder überhaupt nicht gekannt.

»Ist es okay, wenn ihr beide ohne mich da rein geht?« wollte ich daher wissen und erklärte ihnen, warum ich selbst lieber vor der Pforte warten wollte.

Nachdem Kevin zögernd zugestimmt hatte, öffnete Enrico das schmiedeeiserne Tor und machte sich zusammen mit seinem besten Freund, der nur zögerlich Schritt vor Schritt setzte, auf den Weg. Bald verschwanden sie hinter Büschen und Bäumen aus meinem Blickfeld. Ich hatte keine Ahnung, wie lange es dauern würde, bis die beiden zurück waren, und in welchem Zustand Kevin dann sein würde. Unruhig lief ich vor der Friedhofsmauer auf und ab und blickte immer wieder auf das Gelände, um nach ihnen Ausschau zu halten. Zu allem Überfluss begann es jetzt auch noch zu tröpfeln. Ich betete fast darum, dass der Regen nicht stärker wurde. Dies war wirklich nicht der richtige Zeitpunkt, um meinen Kapuzenfetisch auszuleben. Bei einer anderen Gelegenheit wäre ich natürlich nur zu gerne zusammen mit Enrico mit aufgesetzten Kapuzen durch den Regen spaziert. Im Moment lag mir jedoch nichts ferner.

Die beiden schienen eine halbe Ewigkeit nicht wieder zu kommen und meine Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt. Wenigstens hatte das Wetter ein Einsehen und es blieb bei ein paar vereinzelten Tropfen. Irgendwann sah ich sie dann endlich an den Grabreihen entlang zurück zum Tor kommen. Mir fiel ein Stein vom Herzen, als Enrico mir schon von weitem beruhigend zuwinkte. Als die beiden vor mir zum Stehen kamen, wirkte Kevin zwar etwas mitgenommen, er ließ sich aber nichts weiter anmerken. Ich sah ihm nicht an, ob er vielleicht geweint hatte. Auch bei Enrico war die Erleichterung deutlich spürbar.

»Auf zum Bahnhof«, forderte Kevin uns schließlich auf. Er schien nicht weiter über seine Gefühle reden zu wollen. Vielleicht hatte er das ja bereits mit Enrico auf dem Friedhof getan.

Die Stimmung unter uns blieb nachdenklich, als wir gemeinsam unseren Weg fortsetzten. Erst als wir das Stationsgebäude betreten hatten und unsere Sinne durch die anderen wartenden Fahrgäste, die Reklametafeln und die Auslagen an den Kiosken etwas Ablenkung fanden, schien der Trübsinn auch bei Kevin langsam wieder zu verfliegen.

Da wir bis zur Abfahrt des Zuges noch viel Zeit hatten, ließen wir uns nebeneinander in einem beheizten, durch eine Glasfront vom Rest der Bahnhofshalle abgetrennten Wartesaal nieder. Unsere Jacken und den Rucksack warfen wir achtlos über die Lehnen der anderen freien Sitze, da wir den Raum fast für uns allein hatten. Ich besorgte uns am Kiosk die aktuelle Tageszeitung, die wir dann gemeinsam durchblätterten, um uns die Zeit zu vertreiben. Enrico und ich sahen uns immer wieder verstohlen an, wussten aber wohl beide nicht recht, wie wir miteinander umgehen sollten. Für mich zumindest stand fest, dass es erst einmal besser war, ihn nicht zu sehr in mein Herz zu schließen, konnte im Gegenzug aber schlecht einschätzen, ob er das genauso empfand oder sich mehr erhoffte.

»Ich kümmere mich mal um die Fahrkarten«, erklärte ich schließlich, um der Situation zumindest vorübergehend zu entfliehen, und war fast erleichtert als keiner der beiden irgendwelche Anstalten machte, mit mir mitzukommen. Der einzige Fahrkartenautomat im Gebäude war defekt, so dass ich hinaus auf den Bahnsteig musste, um mein Glück dort an einem anderen Automaten zu versuchen. Schon als ich ins Freie trat, fing ich in meinem kurzärmligen T-Shirt leicht an zu frösteln, wollte aber nicht mehr zurück, um meine Jacke zu holen. Zunächst musste ich eine Weile warten, bis ein anderer Fahrgast den Erwerb seines eigenen Tickets beendet hatte. Dann dauerte es noch mehrere Minuten, bis ich mich mit der Bedienung vertraut gemacht und selbst die richtigen Fahrkarten für Kevin und mich gelöst hatte. Wenigstens sorgte eine große Reklamewand neben dem Gerät für etwas Windschutz. Als ich schließlich vor Kälte schlotternd zurück zu den beiden anderen Jungs kam, schlüpfte ich sofort in meine Jacke und schmiegte den weichen Nylonstoff eng um mich.

Inzwischen waren es nur noch wenige Minuten bis zur Abfahrt, sodass wir uns bald zu dritt auf den Weg hinaus auf den Bahnsteig machen mussten. Die Waggons des Zuges erwarteten Kevin und mich dort bereits mit offenen Türen. Den Abschied von Enrico gestalteten wir kurz und schmerzlos. Durchs Fenster winkten wir ihm ein letztes Mal zu. Dann setzte sich der Zug auch schon ächzend in Bewegung.

Geknickt verbrachte ich die knapp dreißigminütige Fahrt bis zu unserem ersten Umsteigeaufenthalt. Ich hatte das Gefühl, eine echte Chance verpasst zu haben. Die letzten Stunden mit Enrico hatte ich einfach so verstreichen lassen. Jetzt war es zu spät. Ich würde ihn wahrscheinlich monatelang nicht wiedersehen. Vielleicht würde ich ihn überhaupt nie mehr wiedersehen.

Als wir den Zug an einem der nächsten Bahnhöfe verlassen hatten und durch die Unterführung zu dem Gleis gelaufen waren, an dem unser Anschlusszug abfahren würde, war meine Stimmung auf dem Nullpunkt. Kevin sah mir kopfschüttelnd dabei zu, wie ich unruhig auf dem Beton neben den Schienen auf und ab lief, eine achtlos weggeworfene Bierdose wiederholt gegen einen Lampensockel kickte, bis sie so platt und zerbeult war, dass ich sie mit der Fußspitze nicht mehr richtig traf, und anschließend begann, nervös mit dem Reißverschluss meiner Jacke zu spielen. Irgendwann schien es ihm zuviel zu werden. Er kam zu mir herüber und griff nach meinem rechten Arm, der den Reißverschlussschieber abwechselnd ein Stück nach oben und wieder nach unten zog.

»Jetzt hör endlich damit auf! Du reißt den Nippel sonst noch ab! Beruhig dich mal, steck deine Hände in die Jackentaschen und werd wieder locker.«

»Was soll das denn jetzt?« wollte ich wissen, gehorchte ihm aber.

In der rechten Tasche fand ich sehr zu meiner Überraschung einen Gegenstand vor. Ich konnte mich nicht erinnern, dass ich den dort hinein gesteckt hatte. Das unbekannte Etwas fühlte sich an wie ein in der Mitte zusammengefaltetes Stück Pappe mit glatter Oberfläche. Als ich es herauszog und ansah, lächelte mich Enrico in doppelter Ausführung von zwei Passfotos aus an. Seine Locken wirkten auf den Bildern noch roter als sonst, wahrscheinlich wegen des Blitzlichts. Unvermittelt musste ich lachen. Wahrscheinlich hatte er die Fotos im Bahnhof schnell an einem Automaten geschossen, während ich die Tickets geholt hatte, und sie dann heimlich in die Tasche meiner Jacke gesteckt. Anders konnte ich mir das jedenfalls nicht erklären.

»Mann, ich hatte erwartet, dass du die viel früher findest«, hörte ich Kevin ärgerlich von hinten. »Muss man bei dir eigentlich immer nachhelfen?«

Ich faltete den Streifen vorsichtig auseinander , um ihn nicht zu beschädigen, und es kamen zwei weitere Fotos zum Vorschein. Auf diesen beiden hatte Enrico die Kapuze seiner Jacke aufgesetzt.

»Du hast ihm also doch was gesagt!« fuhr ich Kevin an. Im ersten Moment war ich etwas ärgerlich.

»Ich hab ihm nur ’nen kleinen Tipp gegeben, als er mir von seiner Idee mit den Fotos erzählt hat. Hab ihm nur gesagt, dass er auf einem der Bilder die Kapuze überziehen soll. Er hat gar nicht weiter nachgefragt.«

Mir wurde ganz warm ums Herz, als ich meinen Blick erneut über die vier Fotos schweifen ließ.

»Schau auch mal auf die Rückseite«, drängte mich Kevin nach einer Weile.

Als ich den Papierstreifen umdrehte, fiel mein Blick auf die Worte: ‚Lieber David, ich freue mich auf unser Wiedersehen. Alles Liebe, Enrico.’

Neben seinen Namen hatte er ein kleines Herz gemalt. Außerdem hatte er seine Handynummer und seine E-Mail-Adresse dazugeschrieben. Ich konnte mein Glück nicht lange genießen, denn schon im nächsten Moment hielt mir Kevin ein Handy entgegen. In der Klinik waren die zwar unerwünscht, er schien seines aber trotzdem an diesem Tag von Zuhause mitgenommen zu haben.

»Was soll ich ihm denn sagen?« fragte ich hilflos.

»Zum Beispiel, dass du mit dem Zug da drüben gleich wieder zurückfährst.«

Er deutete auf die drei Gleise entfernt stehenden Waggons, mit denen wir hierher gekommen waren.

»Das ist nicht dein Ernst?«

»Warum denn nicht?«

»Weil das nicht geht! Wir müssen heute Abend wieder in der Klinik sein!«

»Mann, du kannst ja gleich morgen Früh fahren. Dann bist du zum Mittagessen wieder zurück. Du wirst deswegen schon keinen Ärger bekommen.«

»Ich weiß aber nicht, ob Enrico das überhaupt will.«

»Wenn ich’s dir doch sage!« erwiderte Kevin und verdrehte die Augen.

»Er ist inzwischen bestimmt schon wieder bei sich Zuhause«, wand ich ein. Langsam gingen mir die Argumente aus. Obwohl ich tatsächlich gerne zu Enrico zurückgefahren wäre, schreckte ich doch vor dieser spontanen Aktion zurück.

»Enrico ist immer noch am Bahnhof.«

»Warum sollte er da jetzt noch sein?« fragte ich verblüfft.

»Um auf dich zu warten zum Beispiel?«

»Warum sollte er glauben, dass ich noch mal zurückkomme?«

»Weil ich ihm gesagt habe, er soll dort bleiben, bis der Zug von hier aus wieder zurückgefahren ist. Wenn du dann noch nicht bei ihm angerufen hast, kann er heimgehen. Er starrt jetzt bestimmt nervös auf sein Handy und wartet verzweifelt darauf, dass es klingelt.«

Als ich weiter wie betäubt dastand und nicht wusste, wie ich reagieren sollte, rüttelte Kevin an meinen Schultern. »Mann, entscheide dich endlich, sonst fährt der Zug weg!«

Im gleichen Moment kam eine Durchsage durch die Laufsprecher, die uns darauf hinwies, dass der Zug tatsächlich gleich abfahren würde.

»Los! Lauf!« forderte Kevin mich auf.

Jetzt war ich wirklich zum Handeln gezwungen. Ich warf alle Einwände und Befürchtungen über Bord und leistete keinen Widerstand, als Kevin mich am linken Unterarm ergriff und hinter sich her zerrte. Nebeneinander rannten wir die Treppe hinunter und durch den Tunnel zum anderen Gleis.

»Das mit dem Anruf muss dann wohl ich erledigen«, rief Kevin mir unterwegs zu. »Ich würde dir ja gerne mein Handy überlassen, aber ich habe Sara versprochen, dass ich von unterwegs bei ihr anrufe.«

Als wir auf der anderen Seite den oberen Treppenabsatz erreicht hatten, hechtete ich sofort durch die nächstgelegene offene Waggontür. Der Schaffner stand bereits mit seiner Kelle bereit. Ich hatte es also gerade noch in letzter Sekunde geschafft! Kevin warf mir noch schnell seinen Schlüsselbund entgegen.

»Falls ihr wieder schwimmen wollt«, rief er mir zu.

Mir blieb keine Zeit mehr für irgendwelche Entgegnungen. Ich rief ihm nur noch kurz ein spontanes Danke zu, als sich bereits die Türen vor mir schlossen.

Die Fahrt verbrachte ich in gespannter Erwartung. Hatte Kevin Enrico wirklich angerufen und ihm Bescheid gesagt, dass ich kam? Hatte Enrico es sich vielleicht doch noch anders überlegt und war gar nicht mehr so scharf auf ein Wiedersehen mit mir?

Als sich der Zug wieder dem Bahnhof von Kevins Heimatstadt näherte, schob ich das Fenster neben meinem Sitz nach unten, ohne auf die wenigen anderen Fahrgäste Rücksicht zu nehmen, die sich durch den kalten Luftzug möglicherweise gestört fühlten. Zu meiner großen Erleichterung brauchte ich nicht lange nach Enrico Ausschau zu halten, denn der stand mutterseelenallein direkt am Ende des Bahnsteigs. Als er mich winken sah, breitete sich ein Strahlen auf seinem Gesicht aus. Er winkte kurz zurück und spurtete dann los, um mit dem Zug Schritt zu halten, fiel aber bald zurück. Als er den Waggon, in dem ich mich befand, wieder eingeholt hatte, stand ich bereits in der offenen Tür.

»Da bin ich wieder!« rief ich ihm zu und winkte verlegen. Für einen kurzen Augenblick fühlte ich mich ziemlich unsicher und fragte mich, wie sich unser Zusammensein wohl entwickeln würde. Enrico war von dem kurzen Sprint schon wieder ziemlich aus der Puste. Wir ließen uns deshalb zunächst nebeneinander auf eine Bank fallen.

»Ich bin so froh, dass du zurückgekommen bist«, stieß er keuchend aus.

Spontan legte ich ihm einen Arm um die Schultern und wartete einen Moment, bis sein Atem sich wieder halbwegs normalisiert hatte. Noch immer hatte ich den Papierstreifen mit seinen Porträts in der Hand. Ich hielt ihn hoch, so dass er die Bilder sehen konnte. »Das mit den Fotos war echt ’ne gute Idee.«

»Mann, ich war so verzweifelt, weil ich dich vielleicht nie wieder sehen würde. Da musste ich mir eben was einfallen lassen.«

»Ich hatte dir doch versprochen, dass ich wieder komme.«

»Ja, schon. Aber ich war mir nicht sicher, ob du mich wirklich magst. Wie hätte ich die Ungewissheit so lange aushalten sollen?«

Eine Weile saßen wir nur da und sahen uns gegenseitig in die Augen.

»Dir gefallen meine roten Haare nicht so besonders, oder?« fuhr er nach einer längeren Pause ängstlich fort und fuhr sich dabei mit der Hand über den Kopf.

»Quatsch, wie kommst du denn darauf?« entgegnete ich sofort.

»Naja, Kevin meinte, ich solle für die Fotos die Kapuze aufsetzen. Ich dachte, damit man die Haare nicht so sieht.«

»Unsinn! Ich mag deine Haare«, beruhigte ich ihn lächelnd und wuschelte ihm kurz durch die Locken, was ihm ein breites Grinsen entlockte.

»Früher in der Grundschule habe ich mir wegen der Farbe öfters mal dumme Sprüche anhören müssen«, erklärte er mir. »Kevin musste mich dann immer verteidigen. Der war viel stärker als ich. Einmal hätte er einen anderen Jungen fast verprügelt.«

Ich hörte interessiert zu und begann dann selbst zögerlich zu erklären: »Das mit der Kapuze hat einen anderen Grund. Ich mag Kapuzen einfach, und Kevin weiß das. Ist so ’ne Art Fetisch.«

»Ach so«, entgegnete Enrico leicht verdattert.

»Wenn du willst, kann ich die ja wieder aufsetzen«, fuhr er zögerlich fort und war bereits dabei, nach hinten über die Schulter zu greifen. Ich fasste nach seiner Hand, um ihn daran zu hindern.

»Nee, lass mal!«

Ich war mir nicht sicher, ob er wirklich begriff, was ich ihm soeben offenbart hatte. Vielleicht hatte er keine Ahnung, was ein Fetisch überhaupt war? Ich würde das Thema lieber erst einmal ad acta legen.

»Wir sollten langsam gehen«, fuhr ich deshalb fort. »Schließlich können wir nicht den ganzen Tag hier auf dem Bahnsteig herumsitzen.«

Als ich die Fotos einsteckte, diesmal in die Innentasche, fand ich dort mein Zugticket vor. Grinsend streckte ich es Enrico entgegen. »Ich sollte wirklich besser von hier verschwinden. Wahrscheinlich bin ich gerade schwarz mit dem Zug gefahren. Ich glaube kaum, dass man mit dieser Fahrkarte noch mal zurückfahren darf.«

 

Kapitel 25 - Liebe?

Wir machten uns auf den Weg zurück zu Enricos Zuhause. Als wir kurz nach Mittag an einer Konditorei vorbeikamen, die auch am Sonntag geöffnet hatte, stellten wir beide fest, dass unsere Mägen langsam zu knurren begannen. Enrico schlug vor, daheim erst einmal Spaghetti mit Tomatensoße zu kochen. Trotzdem kauften wir uns für den Nachmittag ein paar Donuts mit bunter Glasur. Ich bezahlte und packte sie in meinen Rucksack.

»Hast du eigentlich noch Geschwister oder haben wir euer Haus ganz für uns allein?« wollte ich unterwegs irgendwann wissen.

»Ich hab eine zwei Jahre ältere Schwester. Die hat aber diesen Winter mit ihrem Studium begonnen und kommt während des Semesters nur jedes zweite oder dritte Wochenende nach Hause. Wahrscheinlich kommt sie nächsten Freitag mal wieder.«

Wir unterhielten uns weiter über unser beider Familien, bis wir sein Haus erreicht hatten. Ich erfuhr, dass sein Vater vor einigen Jahren mit einer eigenen kleinen Firma pleite gegangen war und jetzt einen ziemlich mühsamen Vertreterjob hatte. Glücklicherweise verdiente seine Mutter mit ihrem Anteil an der Boutique von Frau Winter etwas dazu. Im Haus angekommen zeigte er mir zunächst die Zimmer im Erdgeschoss. Obwohl das Gebäude von außen bereits älter wirkte, war die Einrichtung modern und geschmackvoll.

Nach dem Mittagessen führte er mich dann in sein Zimmer, das im ausgebauten Dachgeschoss lag und über eine Wendeltreppe erreichbar war. Die schrägen Wände waren mit hellen Holzpanelen verkleidet, die wiederum mit zahlreichen Postern beklebt waren, hauptsächlich mit irgendwelchen Filmplakaten, die mir wenig sagten. Den Boden bedeckte ein flauschiger beigefarbener Teppich, auf dem vor einer schmalen Couch ein niedriger Tisch stand. In dessen Mitte befand sich eine Schale mit verschiedenen Süßigkeiten, die mein Verlangen nach einer Nachspeise weckten. Gegenüber stand in einer Kombination aus kleinen Schränken, Schubladen und Regalen ein mittelgroßer Flachbildfernseher und eine Spielkonsole. Ein Doppelfenster in einem Erker zwischen Couch und Bett gab den Blick auf den kleinen Garten hinter dem Haus frei. An der am weitesten von der Treppe entfernten Seite des Raums stand unter einem weiteren Fenster ein Schreibtisch, auf dem ein zugeklappter Laptop lag. In den Regalen entdeckte ich zahlreiche Bücher, CDs und DVDs. Bis auf das ungemachte Bett mit der bunten Bettwäsche, deren einer Zipfel bis auf den Boden hing, wirkte alles aufgeräumt und sauber. Ich konnte nur wenige Anzeichen dafür entdecken, dass hier ein schwuler Teenager lebte. Lediglich ein paar seiner Bücher und DVDs wiesen darauf hin.

»Setz dich doch«, bot Enrico an. »Kannst dir ruhig ein Mars oder ein Snickers aus der Schale nehmen, wenn du möchtest. Bounty ist leider alle. Ich steh total auf Kokosflocken, so dass die immer als Erstes weg sind..«

»Danke, mir ist ein Snickers sowieso lieber.«

»Wollen wir was zocken?« fragte er, während ich den Schokoriegel auspackte.

Ich zuckte mit den Schultern. Eigentlich war mir alles Recht, solange ich nur Zeit in seiner Gegenwart verbringen konnte. Mehr wollte ich eigentlich gar nicht. Einfach nur mit ihm zusammen sein.

»Kennst du MotorStorm Pacific Rift?” wollte er wissen. »Das hat ‘nen Splitscreen-Modus.«

»Nee, ich hab keine Konsole. Ich mag eigentlich hauptsächlich Echtzeit-Strategiespiele am PC, so Sachen wie Command & Conquer. Aber wir können das trotzdem spielen, wenn du mir ’ne Chance lässt.«

»Klar, mach ich«, antwortete er dankbar lächelnd.

Eine ganze Weile verbrachten wir nebeneinander auf der Couch, die Controller in der Hand, und fuhren um die Wette. Schnell wurde ich besser und gewann sogar das eine oder andere Rennen, zumindest wenn ich es schaffte, Enrico unfair von der Strecke zu drängen. Mit der Zeit stießen wir nicht mehr nur mit unseren Fahrzeugen zusammen, sondern rempelten uns auch immer öfter sanft gegenseitig mit den Ellenbogen an, um den anderen beim Steuern zu behindern. Aufgrund der Kabbeleien brachen wir häufig in heftiges Lachen und Kichern aus. Als ich ihn einmal in zwei Rennen hintereinander besiegt hatte, ließ er sich von mir tröstend in die Arme nehmen.

»Mann, das kann ja wohl nicht sein, dass du jetzt schon besser bist als ich«, jammerte er übertrieben, als er sich nach einiger Zeit wieder aus meinem Griff löste.

»Du hast mich sicher extra gewinnen lassen«, grinste ich ihn an.

Als wir genug von dem Rennspiel hatten, holte Enrico zwei Teller und meinen Rucksack mit den Donuts nach oben. Gläser und Getränke hatte er bereits während einer kurzen Spielpause gebracht. Ich fuhr noch schnell ein letztes Rennen gegen mehrere Computergegner, die mittlerweile aber alle keine Chance mehr gegen mich hatten. Aus dem Augenwinkel beobachtete ich Enrico dabei, wie er die Tüte mit den Donuts aus dem Rucksack zog und anschließend auch noch mein weißes Kapuzensweatshirt zum Vorschein brachte, das ich am Morgen dort zerknüllt hineingestopft hatte.

»Darf ich das mal anziehen?« wollte er wissen.

»Klar«, erwiderte ich und legte den Controller beiseite.

Sein eigener Pullover flog auf sein Bett und nach wenigen Sekunden hatte er mein Sweatshirt über den nackten Oberkörper gestreift. Die Kapuze landete gleich auf seinem Kopf, nur ein paar rote Locken lugten darunter hervor. Er sah wahnsinnig niedlich aus! Der bunte Druck auf der Frontseite war zwar etwas zerknittert, das störte den Gesamteindruck aber kein bisschen.

Dann fing er an, die Donuts zu gleichen Teilen auf die beiden Teller zu packen. Mit einem Teller in jeder Hand kam er zurück zur Couch. Nachdem er mir den für mich bestimmten gereicht hatte, ließ er sich selbst wieder neben mich auf die Couch plumpsen, lümmelte sich in den Sitz, legte die Füße auf den Tisch und biss genüsslich in den ersten Donut.

»Mmh, lecker«, kam es mampfend von ihm herüber.

Wir aßen jeder erst mal zwei von diesen süßen Gebäckkringeln. Unterdessen miteinander zu reden war vollkommen unmöglich. Wenn einer von uns etwas sagte, konnte der andere nicht antworten, weil er gerade den Mund voll hatte. Unverständliche Laute und zwanghaftes Kichern waren die Folge. Ich fühlte mich in Enricos Gegenwart unglaublich wohl und wollte gar nicht daran denken, dass wir uns in nur wenigen Stunden wieder würden trennen müssen.

»Du stehst also auf so Kapuzensachen?« fragte er mich, als wir aufgegessen hatten. Er hatte seinen kapuzenbedeckten Kopf nach hinten auf die Sitzlehne gelegt und in meine Richtung gedreht.

»Ja«, antwortete ich, plötzlich wieder etwas schüchtern.

»Bis auf die schwarze Jacke hab ich überhaupt keine Klamotten mit Kapuze. Komisch, oder?«

Ich zuckte mit den Schultern und wusste nicht, was für eine Antwort er nun von mir erwartete.

»Doch, ’ne alte Regenjacke müsste noch irgendwo im Schrank liegen«, fuhr er nach einer Weile fort. »Glaub aber nicht, dass mir die noch passt.«

»Wenn du willst, kannst du das Sweatshirt behalten«, bot ich an.

»Echt?«

»Klar.«

»Wow! Immer wenn ich das anziehe, werd’ ich an dich denken.«

Er ließ seinen Kopf an meine Schulter gleiten. Ich spürte, wie der Baumwollstoff der Kapuze an meiner Wange entlang strich, als er sich wohlig räkelte.

»Oh Mann«, seufzte er. »Kannst du nicht hier bleiben?«

»Nee, würde ich aber wirklich gern«, seufzte ich zurück und nahm seine Hand.

»Hat Kevin dir eigentlich verraten, dass ich wegen dir die ganze Nacht nicht schlafen konnte?«

»Nein, echt?« antwortete ich schuldbewusst.

»Ja, hab kein Auge zugetan. Und gleich am frühen Morgen Kevin angerufen und ihm gesagt, dass ich dich unbedingt noch mal sehen will.«

»Das wusste ich nicht. Mann, ich wollte echt nicht, dass du wegen mir so fertig bist. Ich dachte, du wärst heute mitgekommen, weil Kevin deinen Beistand auf dem Friedhof gebraucht hat.«

»Den Entschluss dort hinzugehen muss er erst später gefasst haben, irgendwann nach meinem Anruf.«

»Wie ist es dort eigentlich gelaufen? Hat er was gesagt, als ihr auf dem Friedhof wart.«

»Ich hab ihm versprochen, nicht drüber zu reden. Er will seine Trauer anscheinend immer noch nicht so richtig zeigen. Aber am Grab hat er schon ein bisschen was von seinen Gefühlen rausgelassen. Ich glaube, ihm hat das heute schon irgendwie geholfen.«

»Eigentlich müsste er inzwischen zurück in der Klinik sein«, sagte ich nach einem Blick auf die Uhr. »Sollen wir ihn mal anrufen?«

»Klar, können mir machen.«

Enrico zog sein Handy aus der Tasche und wählte die eingespeicherte Nummer. Kevin war tatsächlich vor einigen Minuten dort angekommen. Er saß bereits mit den anderen aus der Gruppe zusammen und erzählte von unserem Ausflug. Dabei musste er auch erklären, warum ich noch nicht wieder mit zurückgekommen war. Auch Stefan war anwesend, allerdings schon so gut wie dabei, wieder nach Hause aufzubrechen. Ansonsten gab es dort keine Neuigkeiten. Alles in bester Ordnung also.

Nachdem Enrico das Handy weggesteckt hatte, schmiegten wir uns auf der Couch wieder aneinander.

»Jetzt will ich aber endlich mal wissen, was dir Kevin letzte Woche am Telefon alles über mich erzählt hat«, forderte ich Enrico irgendwann auf.

Zunächst erzählte er fast genau das, was auch Kevin bereits preisgegeben hatte. Nur ein wichtiges Detail hatte Kevin mir unterschlagen. Er hatte Enrico nämlich auch noch verraten, dass das Wort ‚unerfahren’ mich ziemlich gut beschrieb.

»Das hat er über dich aber auch gesagt«, erwiderte ich sogleich, um mich zu verteidigen und mich nicht schämen zu müssen. »Wundert mich aber schon irgendwie, weil ihr mit Maxi ja noch ’nen zweiten Schwulen in der Clique habt.«

Enrico antwortete mit leichter Enttäuschung in der Stimme: »Maxi schleppt mich zwar immer mal wieder in so ’ne schwule Jugendgruppe mit. Aber irgendwie hat sich trotzdem bisher nichts ergeben.«

»Und mit Maxi ist auch noch nie was gelaufen?«

»Nee. Er sagt, ich sei nicht sein Typ. Ich will aber auch überhaupt nichts von ihm. Er hat ja sowieso dauernd ’nen Anderen.«

»Ich hatte bisher nur übers Internet Kontakt zu anderen schwulen Jungs«, musste ich selbst schließlich zugeben. »Zumindest bevor ich in die Klinik gekommen bin. Wir haben dort noch ’nen Schwulen in der Gruppe. Der hat aber ’nen festen Freund.«

»Da hab ich ja Glück gehabt«, meinte Enrico lächelnd. Wir schmunzelten einander zu.

»Hast du denn im Netz wenigstens andere gefunden, die auch auf Kapuzenklamotten abfahren?« wollte er schließlich noch von mir wissen.

Wieder schüttelte ich traurig den Kopf. »Naja, so Freaks wie mich trifft man da schon ein paar. Nur sind das fast alles irgendwelche Heteros, die davon schwärmen, wie toll Frauen in Kapuzenjacken aussehen. Was soll ich denn bitte mit denen?«

»Weißt du was, ich hab ’ne Idee. Wir googeln mal danach. Ich bin da ziemlich gut drin, was zu finden. Komm mit!«

Wir liefen zu seinem Schreibtisch hinüber und er klappte seinen Laptop auf. Als das Ding bereit war, gab er als erstes ‚kapuze fetisch’ in die Suchmaske ein. Zuerst landeten wir auf einer Seite mit Bildern, auf denen Menschen mit Ledermasken zu sehen waren, mit Reißverschlüssen quer über den Mündern und ganz engen Augenschlitzen. Auf einer anderen Website war eine Person in einem Ganzkörper-Latexanzug zu sehen, die Kapuze wie bei einem Taucheranzug geformt.

»Von solchen Seiten hab ich auch schon viele gefunden«, sagte ich resigniert. »Lass es gut sein.«

»Jetzt warte doch mal!«

Irgendwann tippte er ‚kapuzen aufsetzen’ in das Suchfeld ein. In der Liste der Suchergebnisse tauchte ziemlich weit oben die Seite www.kapuze-aufsetzen.net auf. Er klickte auf den Link und deutete demonstrativ mit dem Zeigefinger auf das Display, nachdem sich die Seite aufgebaut hatte.

»Na, ist das nichts?« wollte er wissen.

Ich musste zugeben, dass ich das Bild auf der Titelseite der Website recht ansprechend fand. Und auf der Seite drehte sich tatsächlich alles um Daunenjacken, Regenjacken und Kapuzenpullis. Es gab auch ein Forum, in dem aber nicht viel los war. Die Seite schien aber auch noch ziemlich neu im Netz zu sein. Wahrscheinlich hatte ich sie selbst nur deshalb noch nicht gefunden. Vielleicht gab es da ja bald mehr zu sehen und zu lesen. Wenn ich wieder daheim war, würde ich jedenfalls öfters mal dort reinschauen.

Nachdem wir uns noch eine Weile durchs Netz geklickt, aber nichts Interessantes mehr gefunden hatten, griff Enrico nach einer kleinen Digitalkamera, die ebenfalls auf dem Schreibtisch lag.

»Wir müssen unbedingt ein paar Erinnerungsfotos machen, für die Zeit, in der wir uns nicht sehen.«

Ich stimmte sofort begeistert zu. Unter Verwendung von Blitz und Selbstauslöser posierten wir gemeinsam vor der Linse, mal Kopf an Kopf, mal der Eine in den Armen des Anderen, mal grinsend, mal Grimassen schneidend.

Wir überspielten die Bilder sofort auf Enricos Computer und hatten beim Ansehen noch mal genauso viel Spaß wie beim Aufnehmen der Fotos. Schließlich verschickte Enrico die besten Bilder sofort an meine Mailadresse. Wenn ich in der übernächsten Woche wieder heim kam, würde ich garantiert als erstes meine E-Mails abrufen.

»Wollen wir uns ’nen Film ansehen?« schlug Enrico schließlich vor.

Ich hatte nichts dagegen und überließ ihm die Auswahl. Als Enrico die DVD in den Player geschoben hatte, machten wir es uns wieder auf der Couch gemütlich. Während ich mich auf die linke Hälfte lümmelte, legte Enrico sich längs der Sitzfläche auf den Rücken und ließ die Beine auf der rechten Seite über die Lehne baumeln. Sein gerade mal wieder kapuzenbedeckter Kopf landete in meinen Schoß. Ich begann ihm sachte über Arme und Oberkörper zu streichen. Schon nach kurzer Zeit machte sich bei Enrico die durchwachte Nacht bemerkbar. Er fing an zu gähnen, kuschelte sich in den weichen Sweatshirtstoff und entspannte sich völlig unter meinen sanften Berührungen. Nach nicht einmal der Hälfte des Films war er eingeschlafen, atmete leise und gleichmäßig. Nur ab und zu stieß er ein wohliges Seufzen aus. Ganz sachte, um ihn ja nicht aufzuwecken, schob ich ihm die Kapuze ein Stück nach hinten, so dass seine roten Locken zum Vorschein kamen, und strich ich ihm sanft durchs Haar. Draußen hatte sich der Himmel zugezogen und es dämmerte langsam, so dass es auch im Zimmer immer dunkler wurde. Die Bilder auf dem Fernsehschirm tauchten uns beide in ein flackerndes Licht. Erste Regentropfen fielen auf die Dachziegel über uns.

Ich würde eine Weile über Enricos Schlaf wachen und ihn vorsichtig aufwecken, wenn der Film zuende war. Danach lag noch der ganze Abend und die ganze Nacht vor uns. Ich hatte immer noch Kevins Hausschlüssel einstecken. Wir konnten Schwimmen gehen oder auch etwas ganz anderes machen. Uns würde schon was einfallen.

 

Epilog

Ich stand mitten im Zimmer und ließ meinen Blick über die karge Einrichtung schweifen. Psychiatrische Kliniken boten meist nur wenig Annehmlichkeiten und Komfort. Auch dieses Gebäude, das sich auf dem weitläufigen Gelände eines Bezirkskrankenhauses befand, machte einen trostlosen Eindruck. An diese Tristesse würde ich mich aber wohl gewöhnen müssen. Der graue Bodenbelag aus PVC war abgetreten, die Wände gehörten dringend neu gestrichen und die Schränke wiesen etliche Dellen und Kratzer auf. Es schien ein geradezu übermächtiger Sparzwang zu herrschen, denn meiner Meinung nach hätte man hier im Wohnheim für das Pflegepersonal schon vor mindestens zehn Jahren mal gründlich renovieren sollen. Wenn ich ein paar bunte Poster aufhängte und die Einrichtung mit einigen persönlichen Gegenständen ergänzte, würde ich es hier für die Dauer meines Zivildienstes aber sicher aushalten. Es war ohnehin fraglich, ob ich in diesem Zimmer viel Zeit verbringen würde.

Vom Flur aus drangen Geräusche durch die offenstehende Korridortür herein. Ich hörte Schritte, jemand ächzte und fluchte. Ein paar Augenblicke später tauchten zwei mit Kapuzensweatshirts bekleidete Gestalten in meinem Blickfeld auf. Beide hatten Schweißperlen auf der Stirn und trugen einen großen weißen Kasten zwischen sich.

»Mann, kannst du dir vielleicht mal ’nen Flachbildschirm kaufen? Das Ding hier wiegt ja ’ne Tonne!« hörte ich Kevin maulen, als er zusammen mit Enrico meinen 19-Zoll-Röhrenmonitor ins Zimmer trug und neben meinen PC stellte, den ich vorhin ohne große Anstrengung durch das enge Treppenhaus hier herauf in den vierten Stock getragen hatte. Zu blöd, dass der Fahrstuhl gerade defekt war. Alleine wäre ich ganz schön aufgeschmissen gewesen, aber glücklicherweise hatte ich ja zwei Freunde hier in der Stadt, die gerne halfen. Naja, sie hatten ihre Hilfe zumindest gerne angeboten. Inzwischen bereuten sie ihre Gutherzigkeit wohl ein bisschen.

»Wenigstens haben wir jetzt alles raufgeschleppt«, berichtete Enrico keuchend. »Der Kofferraum ist endlich leer.«

Er ließ sich gleichzeitig mit Kevin auf das alte Sofa fallen, was eine Staubwolke zum Aufwirbeln brachte.

»Hab ich dir eigentlich schon erzählt, dass ich vor ein paar Tagen mal wieder eine Mail von Gudrun bekommen habe?«, fragte ich Kevin, während dieser langsam wieder zu Atem kam.

»Nein, bisher noch nicht.«

»Ich soll dich von ihr grüßen.«

»Danke.«

»Geht ihr richtig gut, seit sie den neuen Job hat. Endlich mal nette Kollegen.«

»Wow! Freut mich für sie.«

»Sie hält ja immer noch Kontakt mit Nadine und Christina. Den beiden geht’s wohl auch einigermaßen.«

»Von Thomas hast du wohl nichts mehr gehört?«

»In letzter Zeit nicht. Mit Stefan hat er ja schon vor Monaten Schluss gemacht. Seit er die eigene Wohnung hat, hab ich ihn nicht mehr erreicht. Hat scheinbar ’ne neue Handynummer. Und von sich aus meldet er sich ja sowieso nicht.«

»Wenigstens hältst du immer noch die Verbindung mit den Anderen aufrecht.«

»Naja, du hast für sowas ja keine Zeit mehr. Wenn man jede freie Minute mit der Freundin verbringt ...«

»Apropos Sara«, warf Kevin mit einem Blick auf seine Armbanduhr ein. »Ich bin in ’ner halben Stunde mit ihr verabredet. Wird Zeit, dass ich abhaue. Ich kann euch beide doch allein lassen?«

»Klar«, antworteten Enrico und ich wie aus einem Munde.

Schnell war Kevin aufgesprungen. Er warf uns einen kurzen Abschiedsgruß zu und schloss dann die Korridortür hinter sich. Nun waren Enrico und ich allein.

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