Winterregen (Weirdos) - Eine Story von Robin

 

Kapitel 13 - Das Wiedersehen

Die nächsten 24 Stunden mussten für Thomas dann wie eine halbe Ewigkeit erschienen sein. Sein Zigarettenkonsum war jedenfalls dramatisch angestiegen. Die ganze Zeit über war er gespannt vor Erwartung auf das Wiedersehen mit Stefan und auch während der Gruppentherapie am Freitagnachmittag rutschte er ständig nervös auf seinem Stuhl hin und her. Als uns Frau Fröschl dann endlich ins Wochenende entließ, wäre er am liebsten sofort in den Ort zur Bushaltestelle gelaufen. Dann hätten wir dort allerdings wirklich eine halbe Ewigkeit auf die Ankunft des Busses warten müssen.

So machten wir uns dann doch erst kurz nach Fünf auf den Weg. Kevin und ich begleiteten ihn. Die Mädchen hatten derweil den Auftrag, uns beim Abendessen einen großen Stapel Brote zu schmieren. Schließlich würden wir nicht vor halb sieben mit Stefan in der Klinik zurück sein. Außerdem konnten wir unseren heimlichen Gast schlecht mit in den Speisesaal nehmen. Ihn in den nächsten Tagen mit Essen zu versorgen, würde wohl ohnehin nicht ganz problemlos werden.

Es dämmerte bereits, als wir losliefen. Das Wetter war an diesem Tag schon wieder besser und wir wurden unterwegs nicht von Regen oder Schnee durchnässt. Natürlich hätte ich gegen etwas Schmuddelwetter nichts einzuwenden gehabt. Ich hatte mir an diesem Tag sogar extra wieder einen Kapuzenpulli angezogen in der Hoffnung, dass es regnen oder schneien würde, wenn wir Stefan abholten. Der Wettergott schien mir diesen Gefallen allerdings nicht zu tun. Die Sweatshirtkapuze konnte ich aber auch so als Schutz gegen die Kälte aufsetzen. Dagegen blieb die dünne Kapuze meiner Daunenjacke eben diesmal im Kragen verpackt. Kevin und Thomas schienen es derweil vorzuziehen, kalte Ohren zu bekommen. Naja, besonders frostig war es eigentlich auch nicht.

»Ich kann's noch gar nicht glauben, dass Stefan gleich hier sein wird«, sagte Thomas, als wir nach einer guten halben Stunde Fußmarsch die Bushaltestelle erreicht hatten.

»Wie lange hast du ihn jetzt nicht gesehen?«

»Fünf Wochen oder so«, antwortete er schulterzuckend.

»Naja, noch ein paar Minuten, dann hast du ihn wieder.«

Inzwischen war es richtig dunkel geworden. Der gepflasterte Ortsplatz bildete einen großen Halbkreis, der von nostalgisch anmutenden Lampen in ein angenehmes Licht getaucht wurde. An der geraden Seite des Platzes führte die Hauptstraße vorbei. Hier befand sich auch das Buswartehäuschen. Um den Halbkreis herum lagen neben dem Rathaus und einem griechischen Restaurant auch ein paar Geschäfte. Jetzt am Freitagabend konnte man gut die letzten Kunden in den erleuchteten Läden beim Einkaufen beobachten.

Ich sah auf meine Uhr. Wir waren immer noch über eine Viertelstunde zu früh. Damit Thomas nicht ständig unruhig von einem Fuß auf den anderen trat und uns mit seiner Nervosität noch ansteckte, schlenderten wir lieber noch etwas über den Platz. Wir inspizierten den Brunnen in der Mitte, der um diese Jahreszeit natürlich nicht in Betrieb war, und beobachteten die Passanten. Ich hielt Ausschau nach hübschen Jungs in mit Kapuzen ausgestatteten Winterjacken, aber das Schicksal meinte es auch in dieser Hinsicht nicht gut mit mir. Wurden Kurorte eigentlich grundsätzlich nur von Leuten über 50 bevölkert?

Fünf Minuten vor der planmäßigen Ankunftszeit setzten wir uns dann auf die Bank des Wartehäuschens. Thomas sah inzwischen alle paar Sekunden auf die Uhr. Immer wieder sprang er auf, um auf der Straße Ausschau nach dem Bus zu halten.

»Hey, das isser, oder?« rief er uns irgendwann zu.

Hinter den näher kommenden Autos waren jetzt auch die Scheinwerfer eines größeren Fahrzeugs aufgetaucht. Durch die beleuchtete Fahrziel-Anzeige hinter der Windschutzscheibe konnte man es bald eindeutig als Linienbus identifizieren. Es war einer dieser überlangen Dreiachser, bei denen ich mich immer fragte, wie die überhaupt um die Kurven kamen. Der Fahrer setzte den Blinker und bog langsam in die Haltebucht ein. Nun sprangen auch Kevin und ich auf. Eigentlich hatten wir ja geplant, uns erst einmal im Hintergrund zu halten, damit sich Thomas und Stefan in Ruhe begrüßen konnten, aber nun hielt uns auch nichts mehr auf unseren Sitzen. Ich streifte mir die Kapuze vom Kopf. Schließlich wollte ich Stefan zur Begrüßung nicht so vermummt gegenübertreten.

Noch bevor der Omnibus zum Stillstand gekommen war, blickte Thomas auch schon durch die Seitenscheiben in das Fahrzeug hinein. Da die Innenbeleuchtung bereits eingeschaltet war, konnte man gut die Gesichter der Fahrgäste erkennen. Einige standen bereits im Mittelgang und machten sich zum Ausstieg bereit. Schließlich öffnete der Fahrer die beiden Türen und die ersten Passagiere strömten die Stufen herab ins Freie.

»Scheiße! Ich glaub, er ist nicht dabei!« schrie Thomas plötzlich auf, nachdem ein halbes Dutzend Fahrgäste aus dem Bus gekommen waren und kaum noch weitere zu den Türen drängten.

»Bist du sicher?« fragte ich zurück.

»Ja, verdammt!«

Inzwischen kamen schon die beiden letzten ausstiegswilligen Passagiere durch die breite Mitteltüre heraus. Schnell lief ich nach vorne zum Fahrer.

»Warten Sie bitte einen Moment!« rief ich ihm durch die zum Glück noch geöffnete vordere Türe zu.

Er sah mich verwundert an. Ich winkte Thomas zu und deutete ihm an, dass er nachsehen solle, ob Stefan vielleicht noch im Bus saß. Sofort stieg er durch die Mitteltür ins Fahrzeug. Während er durch den Gang lief und die noch im Bus sitzenden Passagiere der Reihe nach musterte, fragte ich den Fahrer, ob er einen Jungen in unserem Alter bemerkt hatte, der vielleicht schon an einer der anderen Haltestellen ausgestiegen war.

»Weißt du eigentlich, wie viel junge Leute hier mitfahren?«, bekam ich etwas schroff als Antwort. »Und an jeder Haltestelle steigen ein paar davon aus.«

Naja, auf dumme Fragen bekam man eben manchmal auch dumme Antworten. Wie sollte der Fahrer mir auch weiterhelfen können, wenn ich nicht einmal wusste, wie Stefan überhaupt aussah?

Thomas war inzwischen durch den Mittelgang nach vorne gekommen. Er schüttelte enttäuscht den Kopf, als ich ihn fragend anblickte. Ich dankte noch kurz dem Busfahrer, der schon ungeduldig darauf wartete, dass wir endlich wieder verschwanden. Dann verließen wir das Fahrzeug wieder. Der Fahrer schloss die Türen und der Bus setzte sich hinter uns in Bewegung. Nun standen wir wieder alleine vor dem gläsernen Wartehäuschen.

»Verdammte Scheiße!« entfuhr es Thomas.

Er wirkte richtig verzweifelt.

»Er wollte doch kommen! Warum ist er jetzt nicht da?« jammerte er.

Kevin und ich sahen ihn hilflos an.

»Vielleicht ist er ja wirklich nur an der falschen Haltestelle ausgestiegen«, versuchte ich ihn schließlich zu beruhigen.

»Ach wo! Du hast ihm doch ganz genau beschrieben, wo er aussteigen muss.«

Das stimmte. Der Ortsplatz war aber trotzdem bereits die zweite Haltestelle in Bad Neuheim, die der Bus angefahren hatte. Vorher hatte er schon an der Kirche angehalten. Wenn man von unserer jetzigen Position aus die Straße entlang sah, konnte man hinter den Dächern der Häuser gerade noch die beleuchtete Kirchturmuhr erkennen. Die Distanz war aber zu groß, um auch noch die Uhrzeit ablesen zu können. Ein halber Kilometer lag wohl schon dazwischen.

»Und wenn er doch an der Kirche ausgestiegen ist?« schaltete sich Kevin ein. »Wir müssen auf jeden Fall mal nachsehen gehen.«

»Hey, Kevin hat Recht. Vielleicht steht er ja dort jetzt ganz verzweifelt herum und wundert sich, warum wir nicht da sind.«

Thomas schien die Hoffnung aber bereits aufgegeben zu haben. Nur widerwillig folgte er uns, als wir die Hauptstraße entlang in Richtung Kirche liefen. Damit Stefan auf keinen Fall unbemerkt an uns vorbeilaufen konnte, beäugten Kevin und ich alle Passanten auf beiden Gehsteigen. Das war keine besonders schwierige Aufgabe, da in dem verschlafenen Örtchen um diese Uhrzeit kaum noch etwas los war. Thomas trottete derweil missmutig mit gesenktem Kopf hinter uns her.

»Hey, Thomas!« rief Kevin plötzlich. »Isses vielleicht der da vorne?«

Er deutete auf die gegenüberliegende Straßenseite. Sechs oder sieben Häuser weiter näherte sich uns dort ein Junge, der eine große Tasche geschultert hatte.

Thomas blickte auf. Im nächsten Moment rannte er auch schon los.

»Stefan! Stefan!« schrie er und fuchtelte dabei wild mit den Armen in der Luft herum, um seinen Freund auf sich aufmerksam zu machen. Zwei vorbeifahrende LKWs, die einerseits einen Heidenlärm machten und andererseits auch noch die Sicht auf die andere Straßenseite versperrten, ließen mich im ersten Moment daran zweifeln, ob diese Aktion besonders sinnvoll war. Stefan schien uns aber bereits von selbst entdeckt zu haben.

Dann standen sich die beiden gegenüber. Stefan auf der rechten, Thomas auf der linken Straßenseite. Thomas nutzte dann auch die nächste Lücke im Verkehr und rannte zu Stefan hinüber, der inzwischen seine Tasche abgestellt hatte. Es folgten eine lange Umarmung und ein inniger Kuss.

Kevin und ich waren unterdessen stehen geblieben und beobachteten die beiden aus einiger Entfernung, wie sie ihr Wiedersehen genossen.

Es dauerte wohl ein paar Minuten, bis sich die beiden wieder voneinander lösten. Dann mussten sie sich erst einmal ein paar Tränen aus den Augen wischen. Schließlich griff Stefan wieder nach seiner Tasche und kam mit Thomas zu uns herüber. Kevin und ich begrüßten den Neuankömmling.

»Hallo, ich bin David. Wir haben schon mal am Telefon miteinander gesprochen«, sagte ich, als ich Stefan die Hand schüttelte.

»Hallo, schön dich jetzt auch richtig kennen zu lernen.«

»Und das da ist Kevin.«

Jetzt war Kevin mit dem Händeschütteln an der Reihe.

»Hey, jetzt bin ich doch tatsächlich an der falschen Haltestelle ausgestiegen«, meinte Stefan, nachdem wir die Begrüßungszeremonie hinter uns gebracht hatten.

»Naja, wir haben dich ja trotzdem noch gefunden.«

»Ich hab noch extra den Mann gefragt, der neben mir im Bus gesessen ist. Ich dachte halt, der kennt sich hier aus. Und der hat gemeint, dass der Platz vor der Kirche der Ortsplatz ist. Naja, ein Platz war da ja auch, nur eben kein halbrunder, wie du extra noch gesagt hast. Aber bevor ich hier in dem Ort überhaupt nicht mehr aus dem Bus rauskomme, bin ich halt sicherheitshalber dort ausgestiegen.«

»Thomas hatte schon Angst, dass du überhaupt nicht kommst.«

»Und ich hatte Angst, dass ihr vielleicht schon wieder zurück zu dieser Klinik gelaufen seid. Aber ich hätte mich schon durchgefragt.«

Erst jetzt kam ich dazu, Stefan genauer zu betrachten. Er war ziemlich schlank, etwa so groß wie Thomas und sah mit seinem dunkelblonden Wuschelkopf eigentlich ganz gut aus, auch wenn er nicht unbedingt das Zeug zum Model hatte. Er trug eine Brille, die gut zu seinem Typ passte, und hatte in einem Ohr einen relativ unauffälligen Ohrstecker. Sein Oberkörper steckte in einem dicken schwarzen Lederblouson mit Fellkragen. Stefan schien also auch einer der Menschen zu sein, die ganz gut ohne Kapuzen auskamen. Konnte ich gar nicht verstehen. Obwohl er mir ganz gut gefiel, fand ich ihn auch wieder nicht so umwerfend, dass Thomas sich jetzt Sorgen machen musste, dass ich ihm seinen Freund ausspannen würde. Nicht, dass ich an so etwas auch nur im Traum gedacht hätte.

Wir machten uns auf den Rückweg. Unterwegs erfuhren Kevin und ich dann endlich, was Stefan in den letzten Wochen alles durchgemacht hatte. Thomas war in dieser Hinsicht bisher recht schweigsam gewesen und hatte uns nur wenig von dem erzählt, was er von Stefan am Telefon erfahren hatte. Bisher hatten wir uns deswegen noch vieles selbst zusammenreimen müssen. Jetzt beseitigte Stefan die noch vorhandenen Unklarheiten.

In den Tagen nach dem Vorfall vor dem Wohnheim hatte Stefan tatsächlich jeden Vormittag vor der Realschule auf Thomas gewartet und dazu extra mit dieser Lernschwester Melanie die Schicht getauscht. Vor dem Unterricht, während der Pause, immer war er dort gewesen, meistens gut versteckt, damit er nicht aus Versehen Thomas' Vater in die Arme laufen konnte. Er hatte schließlich nicht ausschließen können, dass der jetzt seinen Sohn höchstpersönlich zur Schule brachte und wieder abholte. Thomas war aber nie aufgetaucht. Seine Mitschüler hatten auch nichts von ihm gehört. Um 13 Uhr hatte Stefan dann immer im Krankenhaus seine Schicht antreten müssen. Nie hatte er etwas davon mitbekommen, dass Thomas während dieser Zeit nur ein paar Meter weiter in einem anderen Stockwerk auf einer anderen Station in einem der Krankenzimmer gelegen hatte. Stattdessen hatte er sich die ganze Zeit über kaum auf seine Arbeit konzentrieren können und wäre am liebsten den ganzen Tag über durch die Stadt gestreift, um dort nach Thomas zu suchen. Fast jede Nacht hatte er sich in seinem Wohnheimzimmer in den Schlaf geweint und darauf gehofft, dass Thomas inzwischen wieder von zu Hause ausgerissen war und im nächsten Moment an der Tür klingeln würde. Jeden Tag hatte er daran gedacht, bei Thomas zu Hause anzurufen. Ein paar Mal hatte er das sogar gemacht. Da Thomas nie selbst am Telefon war, hatte er immer sofort wieder aufgelegt. Wie hätte er auch nach Thomas fragen sollen? Schließlich wollte er nicht, dass Thomas wegen seines Anrufs noch mehr Ärger bekam.

Nach anderthalb Wochen war Stefan dann krank geworden. Irgendeine Magen-Darm-Geschichte. Ob ihm die nervliche Belastung so zugesetzt hatte oder ob er sich irgendeinen Virus eingefangen hatte, konnte er nicht sagen. Auf jeden Fall hatte er sich krankschreiben lassen und war mit dem Bus nach Hause zu seinen Eltern gefahren, die 30 Kilometer entfernt in einem kleinen Ort mit ein paar Hundert Einwohnern lebten. Dort hatte die Familie tatsächlich einen Bauernhof, allerdings nur einen relativ kleinen Nebenerwerbsbetrieb. Stefans Vater arbeitete eigentlich in einer Fabrik.

Seine Mutter hatte bald bemerkt, dass Stefan nicht nur unter einer Darmgrippe litt, sondern dass auch etwas anderes mit ihm nicht stimmte. Nach ein paar Tagen hatte er sich ihr dann anvertraut. Er hatte ihr offenbart, dass er schwul war und dann die ganze Geschichte mit Thomas erzählt. Der Druck, der auf ihm lastete, war zu diesem Zeitpunkt einfach zu groß geworden. Er hatte das alles einfach nicht mehr für sich behalten können. Zu Stefans Erleichterung hatte seine Mutter recht positiv reagiert. Sie war wohl einfach erleichtert gewesen, endlich zu erfahren, worunter ihr Sohn so litt. Bei Stefans Vater war das schon komplizierter gewesen. Der war ziemlich konservativ und Stefan hätte sich niemals getraut, ihm selbst zu erzählen, dass er schwul war. Diese Aufgabe hatte dann seine Mutter übernommen. Sie hatte es ihm wohl auch ziemlich schonend beibringen müssen, damit er nicht unüberlegt darauf reagierte. Stefan hatte jedenfalls keinen Ärger mit seinem Vater bekommen. Allerdings schien dieser es vorzuziehen, das Thema totzuschweigen und seinem schwulen Sohn so weit es möglich war aus dem Weg zu gehen. Stefan hoffte aber, dass sich das Verhältnis zwischen den beiden bald wieder verbessern würde.

Als es Stefan nach knapp zwei Wochen körperlich wieder so gut gegangen war, dass ihn der Arzt unmöglich noch länger krankschreiben konnte, hatte seine Mutter dafür gesorgt, dass er noch zwei Wochen Urlaub bekam.

Während all der Wochen hatte sie ihn häufig in die Stadt gefahren, damit er weiter nach Thomas suchen konnte. Die Suche war natürlich erfolglos geblieben. Zu dieser Zeit war Thomas ja auch bei seiner Oma oder bereits bei uns in der Klinik gewesen. Irgendwann hatte Stefan die Suche dann fast ganz aufgegeben. Diese Woche war er nur noch ein einziges Mal in der Stadt gewesen. Dann war der Anruf gekommen.

»Hey, ihr könnt euch echt nicht vorstellen, wie erleichtert ich war!« beendete Stefan seinen Bericht. »Ich hab mich immer gefragt, warum er nicht mehr in die Schule kommt. Ich hab mir die schlimmsten Dinge vorgestellt, die sein Vater mit ihm angestellt haben könnte. Man kommt da echt auf verrückte Ideen. Manchmal hab ich mich sogar gefragt, ob er überhaupt noch lebt!«

Thomas sah ihn mit seinem Dackelblick an, als er den letzten Satz ausgesprochen hatte.

»Hey, jetzt hab ich dich ja wieder!« reagierte Stefan sofort.

Die beiden blieben stehen, umarmten sich und gaben sich einen Kuss. Eng umschlungen standen sie eine Weile da, direkt neben dem kleinen zugefrorenen See, auf dessen Eis sich die Lichter der Klinik spiegelten, die zwei- oder dreihundert Meter vor uns lag.

Als sich die beiden wieder voneinander lösten, erzählte Stefan weiter.

»Naja, als Thomas mir dann am Telefon gesagt hat, dass er versucht hat, sich umzubringen, hab ich noch mal 'nen ganz schönen Schreck bekommen. Und dann noch die Sache mit dem Krankenhaus! Mann! Da liegt er nur 'n paar Meter weiter und ich lauf durch die ganze Stadt und such ihn dort.«

Stefan schüttelte fassungslos den Kopf.

Inzwischen hatten wir den See hinter uns gelassen. Die Klinik lag nun direkt vor uns. Die Gefahr, dass Stefan mit seiner Tasche irgendeinem Mitglied des Klinikpersonals auffiel, war zwar gering. Trotzdem war ich nervös, als wir die Klinik durch den Kellereingang betraten. Glücklicherweise war der Eingangsbereich menschenleer. Der Fahrstuhl war auch schon nach wenigen Sekunden da. Wir fuhren hinauf zu unseren Zimmern. Auch durch den langen Gang kamen wir, ohne einer Menschenseele zu begegnen. Dann verschwand Stefan mit Thomas im Zimmer.

Wir versorgten die beiden noch mit einem großen Essenstablett, das die Mädchen vorbereitet hatten. Dann ließen wir sie für den Rest des Abends allein. Es war nur zu verständlich, dass Thomas und Stefan erst einmal unter sich sein wollten. Natürlich fragte ich mich, was die beiden im Zimmer so alles anstellten. Hoffentlich waren sie nicht zu laut. Die Wände waren hier nicht besonders dick. Laute Geräusche waren da schon mal bis auf den Gang oder bis ins Nachbarzimmer zu hören.

Auch den nächsten Tag verbrachten die beiden zum größten Teil alleine. Gleich nachdem sie in Thomas' Zimmer gefrühstückt hatten, gingen sie in den Ort und kamen erst am späten Nachmittag zurück. Dann setzten wir uns zusammen in den Raum oben auf dem Klinikdach. Nur wir Jungs, damit Stefan sich nicht so vorkam, als säße er auf dem Präsentierteller.

Stefan erzählte uns bei dieser Gelegenheit dann noch etwas mehr über sich. Vor einem halben Jahr hatte er die Ausbildung zum Krankenpfleger begonnen. Ein wichtiger Grund für seine Berufswahl war gewesen, dass er dadurch im Personalwohnheim unterkommen konnte und endlich nicht nur stundenweise aus seinem kleinen Kaff herauskam. Langenbergen war zwar auch nicht gerade eine Großstadt und so etwas wie eine Gruppe für schwule Jugendliche gab es dort ebenfalls nicht, trotzdem hatte er sich von Anfang an die Hoffnung gemacht, in der Stadt irgendwie einen Boyfriend zu finden. In seiner Freizeit war er dann auch häufig stundenlang durch die Stadt gestreift. Dass sich Stefan und Thomas dann irgendwann in einem Kaufhaus kennen gelernt hatten, war wohl ein glücklicher Zufall gewesen. Thomas hatte an einem Nachmittag wie so häufig gelangweilt und in Ermangelung anderer Beschäftigungsmöglichkeiten die Musikabteilung durchstöbert. Stefan war dort auf ihn aufmerksam geworden und hatte ihn dann einfach angesprochen, nachdem sich die beiden eine Weile gegenseitig beäugt hatten. Für den nächsten Tag hatten sich die beiden dann wieder verabredet. Sie waren zu Stefan ins Wohnheim gegangen und hatten sich dort dann zum ersten Mal geküsst. Damit war für beide ein Traum in Erfüllung gegangen und Thomas hatte außerdem jemanden gefunden, der ihn den Stress mit seinem Vater zumindest für eine Weile vergessen ließ. Die beiden hatten daraufhin drei schöne Monate verlebt, bis dann der Tag gekommen war, an dem der Stammtischbruder von Thomas' Vater die beiden händchenhaltend in der Stadt gesehen hatte.

»Und dann hat Thomas irgendwann Mittags vor meinem Zimmer auf mich gewartet«, beendete Stefan seinen Bericht. »Der hat da schon Stunden gesessen, bis ich endlich von der Frühschicht gekommen bin. Oh Mann, der hat ganz schön schlimm ausgesehen. Sein Vater hat ihn ziemlich zugerichtet.«

»Naja, gegen das, was er dann ein paar Tage später mit mir angestellt hat, war das eigentlich noch harmlos«, warf Thomas ein. Dann atmete er tief durch und stand auf.

»So, ich brauch jetzt erst mal wieder 'ne Kippe. Kommt wer mit raus?«

Stefan sah mich flehentlich an und schüttelte dabei leicht mit dem Kopf. Ich wusste nicht genau, was er mir damit mitteilen wollte. Die Stimmung zwischen ihm und Thomas schien etwas angespannt zu sein, seit sie aus dem Ort zurückgekommen waren. Während Stefan erzählt hatte, war Thomas nur kleinlaut herumgesessen und hatte kaum ein Wort gesagt.

»Hey, geh mal alleine«, forderte ich Thomas deshalb auf. »Oder brauchst du jedes Mal Gesellschaft, da draußen in der Kälte?«

»Okay, wenn's euch zu kalt ist, dann bleibt ihr halt hier drinnen.«

Als Thomas sich dann draußen auf der Terrasse die erste Zigarette anzündete, nickte mir Stefan dankbar zu.

»Ich wollte mal mit euch beiden alleine reden«, sagte er leise und blickte dabei durch die Scheiben nach draußen, um sicherzustellen, dass Thomas sich nicht weiter um uns kümmerte, während wir uns unter sechs Augen unterhielten.

»Wisst ihr, als Thomas sich endlich bei mir gemeldet hat, da war ich zuerst mal nur froh und erleichtert. Aber inzwischen stell ich mir halt die Frage, warum er nicht schon früher angerufen hat, viel früher. Er hätte doch schon im Krankenhaus einfach nur nach mir fragen brauchen. Und als er dann bei seiner Oma war, da hätte er mich doch auch anrufen können. Sein Vater hätte doch nichts davon mitbekommen, oder? Warum hat er das nicht gemacht? Ich versteh das einfach nicht! Und er will auch nicht mit mir drüber reden. Er sagt immer nur, dass es ihm Leid tut, dass er sich nicht früher gemeldet hat.«

Ich wusste nicht so recht, was ich antworten sollte. Kevin zuckte auch nur hilflos mit den Schultern.

»Da solltest du vielleicht besser unsere Psychologin fragen«, antwortete ich deshalb nach einigem Zögern. »Mir ist auch nicht ganz klar, was so in ihm vorgeht. Aber wenn du mich fragst, dann hatte er wohl einfach Angst, dass dich die Begegnung mit seinem Vater so geschockt hat, dass du deswegen nichts mehr mit ihm zu tun haben wolltest.«

»Aber mir war doch auch schon vorher klar, was für ein Arschloch sein Vater ist. Schließlich hab ich bei Thomas die ganzen Wunden und blauen Flecken versorgt, als er von zu Hause ausgerissen war. Klar, ich hab ziemlich Schiss gehabt, als dieser Typ dann unten vor dem Wohnheim stand. Vielleicht hätte ich da nicht einfach abhauen sollen, aber ich hatte halt eine Scheißangst vor diesem Kerl! Was hätte ich denn sonst machen sollen?«

Stefan blickte uns verzweifelt an.

»Hey, du hättest gar nichts machen können. Als sein Vater vor ein paar Tagen hier aufgekreuzt ist, waren wir zu sechst und hatten trotzdem total Schiss!«

»Ja, das hat Thomas mir erzählt. Ich frag mich trotzdem, ob er's mir vielleicht doch übel genommen hat, dass ich da einfach so verschwunden bin anstatt ihm beizustehen. Kann's sein, dass er sauer auf mich war und sich deswegen nie gemeldet hat?«

»Nein, das glaub ich nicht«, antwortete Kevin. »Das hätte er uns bestimmt gesagt.«

»Das seh ich auch so«, fügte ich hinzu. »Daran lag's ganz bestimmt nicht. Mach dir bloß keine Vorwürfe. Du bist ganz sicher nicht Schuld dran, dass sich Thomas nicht bei dir gemeldet hat.«

»Ihr glaubt echt, er hatte nur Angst, dass ich wegen seinem Vater nichts mehr von ihm wissen will? Aber er weiß doch, dass ich ihn liebe, oder nicht?«

»Naja, Thomas hatte halt vorher nie jemanden, der so richtig für ihn da war. Der kennt das eben nicht, dass jemand zu ihm steht, auch wenn's mal Probleme gibt.«

»Auf jeden Fall hat er dich verdammt vermisst die ganze Zeit über«, fügte Kevin hinzu. »Jedes Mal, wenn wir auf dich zu sprechen gekommen sind, hat er angefangen zu heulen.«

»Echt?«

»Ja, du hast ihm total gefehlt in den letzten Wochen. Er braucht dich!«

Stefan schien jetzt ziemlich erleichtert zu sein.

»Hoffentlich habt ihr Recht! Mir hat das echt zu schaffen gemacht. Ich geh mal zu ihm raus, okay?«

Dann stand er auf und ging nach draußen zu Thomas.

Wir beobachteten die beiden, wie sie auf der Terrasse ein paar Worte wechselten. Ihre Stimmen drangen zwar nicht durch die Scheiben, aber da beide Tränen in den Augen hatten, schien es irgendetwas sehr emotionales zu sein, was sie besprachen. Die Spannung zwischen den beiden schien dadurch auch zu verfliegen, denn Thomas ließ seine Zigarette fallen und die beiden fielen sich in die Arme.

Kevin und ich lächelten uns zu.

»Ich glaub, wir lassen die beiden wieder alleine, oder?« schlug ich vor.

»Ja, ist wohl besser. Scheint ja wieder alles in Ordnung zu sein zwischen denen.«

Wir standen auf und verschwanden im Aufzug.

Am nächsten Tag hieß es dann schon vormittags Abschied von Stefan zu nehmen. Die Busverbindung am Sonntag war noch schlechter als unter der Woche. Der einzige Bus in die Stadt fuhr kurz nach Zwölf am Ortsplatz ab. Außerdem hatte Stefan ja noch eine längere Zugfahrt vor sich. Montags wollte er dann auch endlich wieder seinen Dienst im Krankenhaus antreten. Sein Urlaub war nämlich zu Ende. Und jetzt, wo er Thomas wiederhatte, fühlte er sich auch wieder dazu in der Lage zu arbeiten.

Thomas brachte seinen Freund alleine zurück zum Bus. Die beiden wollten die letzten Minuten wohl noch zu zweit verbringen. Der Abschied schien ihnen ohnehin ziemlich schwer zu fallen.

Als Thomas dann alleine aus dem Ort zurückkam, mussten wir ihn erst einmal etwas aufmuntern. Da Stefan in der nächsten Woche Spätschicht hatte, würde er am nächsten Wochenende nicht kommen können. Die beiden hatten aber vereinbart, dass Thomas stattdessen ihn besuchen sollte. Irgendwie schien Thomas das aber nicht so sehr zu gefallen. Naja, Stefans Mutter wollte ihn kennen lernen und sich dazu am Samstagnachmittag mit den beiden in Langenbergen in einem Café treffen. Darüber war Thomas eben nicht so begeistert. Bei den Erfahrungen mit seinen eigenen Eltern war das auch nur zu verständlich. Außerdem hatte er wohl Angst, in die heimatliche Umgebung zurückzukehren. Schließlich trieb sich da in ein paar Kilometern Entfernung auch sein Vater herum. Und dem wollte er keinesfalls begegnen.

Damit Thomas auf andere Gedanken kam, sorgten wir nachmittags und abends für etwas Abwechslung. In der Klinik gab es auch einen Billardtisch und zwei Tischtennisplatten. Wurde langsam Zeit, dass wir die auch mal nutzten. So ging dann auch noch der Rest des Wochenendes vorüber.

 

Kapitel 14 - Neue Gesichter

Am Montag hatte uns dann der Klinikalltag wieder. Thomas hatte den Abschied von Stefan doch noch einigermaßen verkraftet. Die beiden würden sich ja bald wieder sehen. Und miteinander telefonieren konnten sie in der Zwischenzeit auch so oft sie wollten. Irgendjemand würde schon für die Telefongebühren geradestehen. Mein Tag war mit der Angstgruppe, dem autogenen Training und der obligatorischen Gruppentherapie jedenfalls gut ausgefüllt. Danach blieb für Kevin und mich gerade noch Zeit, um zum Einkaufen in den Ort zu laufen. Es wurde langsam Zeit, dass wir begannen, für Nadine ein Geschenk zu suchen. Ihr 18. Geburtstag rückte immer näher.

Am Dienstag hatten wir dann alle wieder einen freien Vormittag. Zwei Wochen waren wir nun hier in der Klinik. Das war aber nicht das einzige besondere an diesem Tag. Heute würden auch wieder neue Patienten ankommen. Diesmal hatte sich Nadine genau informiert. Sie hatte die nette Dame hinter der Rezeption ganz schön nerven müssen, bis diese endlich mit der Sprache herausgerückt war und ihr mitgeteilt hatte, dass heute tatsächlich mal wieder eine Gruppe mit Leuten unseres Alters dabei war. Wir erfuhren sogar, dass diese Gruppe aus sechs Mädels und zwei Jungs bestand. Ich konnte also darauf hoffen, dass auch etwas Schnuckeliges für mich dabei war. Naja, meine Hoffnung, dass sich einer der beiden Neuen vielleicht tatsächlich als mein Traumprinz entpuppen würde, war wohl ziemlich naiv. Das war mir auch klar. Aber Träume durfte man ja wohl noch haben, oder? Die Wahrscheinlichkeit, dass auch nur einer der beiden schwul war, war ohnehin denkbar gering. Schließlich war die Schwulenquote unter den jungen männlichen Patienten bereits weit über dem Bevölkerungsdurchschnitt. Es wäre schon ein gigantischer Zufall, wenn da jetzt noch einer dazu käme. Und ob der dann wirklich Interesse an mir hätte?

Gespannt auf die Neuen waren wir aber alle. Wir fragten uns, wie die wohl aussahen und warum sie hier waren. Außerdem konnten wir denen dann erst einmal von unseren eigenen Erfahrungen in der Klinik berichten und alle möglichen klugen Ratschläge geben.

Also verbrachten wir den ganzen Vormittag gemeinsam in der Eingangshalle. Und da mussten wir zuerst einmal eine ganze Weile warten. Nadine hatte wohl Recht mit dem, was sie mir bereits an unserem eigenen Anreisetag mitgeteilt hatte. Die meisten neuen Patienten kamen nicht früher, als unbedingt nötig. Das bedeutete, dass viele erst gegen 14 Uhr eintrudeln würden. Aber was hatten wir schon besseres zu tun? Wir verpassten ja nichts, wenn wir hier untätig in der Halle herumhockten.

Kurz vor elf war es dann soweit. Der VW-Bus brachte die ersten Neuankömmlinge. Tatsächlich waren darunter zwei recht junge Mädchen, beide so um die 18 Jahre alt. Eine davon sah ganz gut aus. Das fand zumindest Kevin. Ich konnte ihm da auch nicht widersprechen. Mir wäre aber ein süßer Junge lieber gewesen.

Die neuen wurden an der Rezeption mit der üblichen Prozedur abgefertigt. Ohne groß Notiz von uns zu nehmen, verschwanden sie mit ihren Koffern und Taschen im Fahrstuhl.

Dann wurde es wieder eine Weile ruhig. Erst gegen halb zwölf wurde es auf dem Parkplatz etwas lebendiger. Nach und nach trafen jetzt neue Patienten ein. Naja, hauptsächlich waren es Patientinnen. Die Frauenquote in solchen Kliniken war eben im Allgemeinen recht hoch. Deshalb war das auch keine Überraschung für uns. Einige kamen mit dem eigenen Auto, die meisten wurden von Angehörigen gebracht. Allerdings war zunächst einmal niemand mehr dabei, den ich unserer Altersklasse zuordnen konnte. Die meisten waren wohl Mitte 20 bis Ende 30.

Kurz nach dem Mittagessen bog dann ein kleiner, alter Peugeot in eine nahe gelegene Parklücke ein. Ein junger Mann stieg aus und blickte sich etwas unsicher um. Ich schätzte ihn auf Anfang 20. Er war wohl knapp zwei Meter groß und hatte bereits eine leichte Stirnglatze. Falls dies einer der beiden potentiellen Traumprinzen für mich sein sollte, dann konnte ich ihn als Kandidaten bereits abhaken. Der hier verursachte bei mir leider kein Herzklopfen.

»Gehen wir mal raus und bringen ihm 'nen Wagen für's Gepäck?« schlug Nadine vor. »Der sieht so verloren aus.«

»Hmm, ob ihm das so recht ist, wenn wir ihn alle einfach so überfallen?« erwiderte ich. »Also mir würde das glaub ich nicht so gefallen.«

Wenn der Typ richtig schnuckelig gewesen wäre, hätte mich natürlich nichts zurückgehalten und ich wäre nur zu bereitwillig Nadines Vorschlag gefolgt. So erinnerte ich mich aber an meine eigenen Gefühle, die ich gehabt hatte, als ich hier angekommen war. Und da war mir Nadines etwas aufdringliche Art überhaupt nicht recht gewesen.

»Ich bring dem jetzt mal 'nen Wagen.«

Nadine schien sich durch mich von ihrem Vorhaben nicht abbringen zu lassen. So lief sie halt alleine nach draußen, schnappte sich eine der Gepäckkarren und schob diese zu dem Kleinwagen hinüber. Wir beobachteten sie, wie sie dem Neuankömmling die Hand schüttelte und ihm dann half, sein Gepäck auszuladen.

Nach ein paar Minuten betrat sie mit ihm dann die Klinik. Während der junge Mann an der Rezeption von der Klinikangestellten begrüßt wurde, teilte uns Nadine leise mit, dass er Armin hieß, 22 Jahre alt war und Physik studierte. Nachdem er seinen Zimmerschlüssel und die anderen Unterlagen erhalten hatte, winkte sie ihn zu uns herüber. Dann stellte sie uns der Reihe nach vor.

»Wie lange seid ihr schon hier?« wollte Armin wissen.

»Zwei Wochen«, antwortete Gudrun.

»Und? Wie isses hier so?«

»Ach, ganz okay. Man gewöhnt sich schnell dran.«

»Kannst du mal nachsehen, in welcher Gruppe du bist?« bat ich ihn neugierig.

»Wo seh ich das?« fragte er zurück.

»Steht irgendwo auf dem Zettel, den du gerade bekommen hast.«

»Gruppe 2A steht hier«, antwortete er, nachdem er das Blatt kurz überflogen hatte.

Gruppe 2A, das war tatsächlich die Gruppe mit den ganz jungen Patienten. Damit war Kandidat eins nun tatsächlich aus dem Rennen ausgeschieden. Blieb nur noch ein potentieller Traumprinz für mich übrig.

»Warum willst du das wissen?« fragte er mich.

»Ach, nur so«, wich ich aus.

»Sind sonst schon Leute aus meiner Gruppe da? Wisst ihr das?«

»Zwei junge Mädchen sind schon angekommen«, sprang Nadine ein. »Die müssten eigentlich auch in deiner Gruppe sein.«

»Eine davon sieht ganz gut aus«, meinte Kevin verschmitzt.

»Echt?«

Armin grinste erwartungsvoll zurück. Schwul schien er also sowieso nicht zu sein.

Dann verabschiedete er sich von uns und verschwand im Fahrstuhl.

Ich war etwas enttäuscht. Meine Hoffnungen schienen sich nicht zu erfüllen. Nur noch mit verhaltenem Interesse verfolgte ich, wie weitere Neuankömmlinge dem Klinikbus oder ihren eigenen Autos entstiegen.

Um 13.30 Uhr musste ich schließlich zum autogenen Training. Das war mir ganz recht, denn inzwischen war ich ziemlich frustriert. Etwas Entspannung würde mir also ganz gut tun. Ich lief mit Christina und Gudrun nach oben zum Gruppenraum in den zweiten Stock. Die anderen drei blieben noch eine Weile unten in der Halle.

Mich zu entspannen war diesmal nicht ganz einfach und die Dreiviertelstunde zog sich ziemlich in die Länge. Als ich danach zurück ins Zimmer laufen wollte, versperrte eine noch gut beladene Gepäckkarre den Gang. Notgedrungen blieb ich stehen. Eine Frau, die ich auf Mitte 30 schätzte, stand daneben und blickte durch eine geöffnete Türe in eines der Einzelzimmer auf der rechten Seite des Ganges. Im ersten Moment dachte ich, dass das ihr Zimmer wäre, doch dann erblickte ich einen Jungen, dessen Anblick mein Herz einen Sprung machen ließ. Er kam gerade aus dem Zimmer, um einen der Koffer vom Gepäckwagen zu nehmen. Er war ungefähr in meinem Alter, in etwa so groß wie ich, hatte schwarze, strubbelige Haare und ein ziemlich süßes Gesicht. Richtig aufregend fand ich den Strickpullover, den er anhatte. Der hatte nämlich eine Kapuze.

Kaum hatte ich einen kurzen Blick auf ihn werfen können, verschwand er auch schon wieder mit dem Koffer in seinem Zimmer.

»Ich hab dann alles«, hörte ich ihn rufen.

Dann durfte ich noch einmal kurz seinen Anblick genießen, als er die Türe schloss.

Mein Herz pochte wild. Dann holte mich die Frau, die immer noch neben mir stand, aus meinen Träumen.

»Könnten Sie mal kurz Platz machen?« bat sie mich. »Ich muss nämlich wieder zurück.«

»Ja, klar.«

Ich quetschte mich dicht an die Wand, so dass sie mit dem Wagen an mir vorbeikam.

»Mein Zimmer ist nämlich im ersten Stock. Der junge Mann hier hatte nur dummerweise sein Gepäck ganz oben auf dem Wagen. Deswegen musste ich mit ihm hoch kommen.«

»Ach so.«

»Dass die da auch nur so wenige von diesen komischen Gepäckwagen haben. Wenn mit diesem Kleinbus da gleich sechs oder sieben Leute auf einmal ankommen, dann können die doch gar nicht ausreichen. Das müssten die Leute von der Klinik doch eigentlich wissen. Warum schaffen die nicht einfach noch ein paar von diesen Wägelchen an. So teuer können die doch nicht sein.«

Sie schien einer dieser Menschen zu sein, die einem pausenlos die Ohren vollplappern konnten, ohne dass man selbst auch nur einen Ton zu sagen brauchte. Ich nahm kaum wahr, was sie so alles von sich gab, während sie den Wagen langsam zurück zum Aufzug bugsierte. Stattdessen starrte ich wie gebannt auf die Zimmertüre, hinter der dieser Junge verschwunden war. Mindestens eine Minute blieb ich so stehen und hoffte darauf, dass er wieder herauskommen würde. Dann kam ich mir doch etwas blöd dabei vor. Was hätte ich auch zu ihm sagen sollen, falls er wirklich die Türe öffnete und mich hier stehen sah? Zwei andere Patienten, die gerade den Gang entlang kamen, sahen mich auch ganz komisch an. Oder bildete ich mir das nur ein?

Ich prägte mir genau die Zimmernummer dieses Boys ein. 228. Dann lief ich langsam den Gang entlang zurück zu meinem Zimmer. Noch ein oder zwei Mal blickte ich zurück. Vielleicht kam er ja doch wieder heraus?

Im Zimmer angekommen ließ ich mich seufzend auf meine Matratze fallen. Kevin lag auf seinem Bett und las. Er legte sein Buch zur Seite und sah zu mir herüber.

»Is was?« wollte er wissen.

»Hier ist grad so'n junger Typ angekommen. Mann, der ist richtig süß!«

Kevin grinste mich an.

»Jetzt dreh aber nicht gleich durch, ja? Du weißt ja noch nicht mal, ob der überhaupt schwul ist.«

»Ja, das ist mir schon klar, dass der wahrscheinlich nicht schwul ist. Süß isser aber trotzdem.«

Später vor der Gruppensitzung sah ich den Jungen dann wieder, wenn auch nur ganz kurz. Das erste Treffen seiner eigenen Gruppe fand im Nachbarraum statt. Ich stand noch im Vorraum vor dem Fahrstuhl und er huschte schnell an mir vorbei, als er aus seinem Zimmer kam. Sofort war er im Gruppenraum verschwunden, wo bereits einige andere Mitglieder seiner Gruppe warteten. Natürlich hätte ich jetzt durch die geöffnete Türe hineinsehen und ihn dabei beobachten können, wie er sich dort mit den anderen bekannt machte. So neugierig wollte ich dann aber doch nicht sein. Ich würde ihn ja jetzt häufiger sehen.

Das nächste Mal war dies beim Abendessen der Fall. Die Begrüßung durch den Chefarzt dauerte heute anscheinend noch länger als bei uns vor zwei Wochen. Erst kurz nach 18.30 Uhr kamen die Neuen in den Speisesaal geströmt. Zu meinem Pech lag der Tisch dieses süßen Jungen dann auch noch ganz hinten am anderen Ende des Speisesaals. Eine Säule versperrte mir ausgerechnet die Sicht auf seinen Platz. So konnte ich auch jetzt wieder nur einen kurzen Blick auf ihn werfen, als er mit den anderen Mitgliedern seiner Gruppe den Speisesaal betrat und dabei direkt an unserem Tisch vorbeiging. Kurz darauf bediente er sich dann am Büffet. In dem Getümmel wurde er aber meistens von anderen verdeckt und sein Kopf tauchte nur ab und zu für wenige Augenblicke aus der Menge auf.

Als wir selbst mit dem Essen fertig waren, machte Nadine einen Vorschlag, der mich sofort begeisterte.

»Wollen wir die Neuen für heute Abend einladen? Wir könnten uns ja zusammensetzen. Entweder in der Cafeteria oder oben auf dem Dach, da ist's ruhig. Wär doch schön, wenn wir die mal näher kennen lernen würden, oder?«

»Ja, das wäre toll«, antwortete ich. »Wer geht sie fragen?«

»Das kann ich ja machen«, meinte Gudrun. »Kommt noch einer von euch Jungs mit?«

»Ja, ich geh mit.«

Ich durchquerte mit Gudrun den Speisesaal. Wir blieben mit einem freundlichen Lächeln vor den anderen stehen. Der süße Junge saß neben Armin auf einem der Stühle direkt am Gang und wandte mir deshalb den Rücken zu. Wenn ich ihm schon nicht ins Gesicht sehen konnte, stellte ich mich wenigstens ganz dicht hinter ihn. Ich hätte meine Hand nur ein paar Zentimeter ausstrecken müssen, um ihn zu berühren. Mein Blick fiel sofort auf seine strubbeligen schwarzen Haare und auf die Kapuze seines Pullis. Er war gerade dabei, sich den Rest eines Wurstbrotes in den Mund zu schieben. Vielleicht hätten wir mit unserer Aktion doch besser warten sollen, bis alle mit dem Essen fertig waren. Irgendwie fand ich das ein wenig unhöflich, was wir da gerade machten.

Auch die sechs Mädchen, die auf den anderen Seiten des Tisches saßen, waren noch mit dem Verzehr von Broten und Salaten beschäftigt. Naja, einige von denen waren eher junge Frauen. Der Altersdurchschnitt in dieser Gruppe schien etwas höher zu sein als bei uns. Neben Armin schätzte ich auch drei der weiblichen Gruppenmitglieder auf über 20.

»Hallo, wir wollten mal fragen, ob ihr euch nachher vielleicht zu uns setzen wollt«, fragte Gudrun dann endlich in die Runde.

»Wir sind schon zwei Wochen hier, vielleicht wollt ihr ja ein paar Sachen von uns wissen«, fügte ich hinzu. »Aber wir können auch einfach nur so gemütlich zusammensitzen.«

Als erste Reaktion ernteten wir einiges Schulterzucken.

»Also ich muss jetzt erst noch meine Koffer auspacken«, antwortete eine der jungen Frauen nach einer Weile.

»Ich komm mit hoch. Ich bin auch noch nicht damit fertig.«

Das war wohl ihre Zimmergenossin.

Die anderen schienen unschlüssig zu sein. Ich hörte irgendwas von 'lange Fahrt', 'müde' und 'früh ins Bett'. Die acht schienen kein besonders unternehmungslustiger Haufen zu sein. Naja, die waren ja auch alle nicht ohne Grund hier. Einigen war vielleicht einfach nicht nach Gesellschaft zumute. Zumindest nicht gleich am ersten Abend.

»Naja, ihr könnt euch das ja noch überlegen. Wir warten draußen in der Halle.«

Gudrun und ich kehrten etwas frustriert zu unserem Tisch zurück. Ich war ganz besonders enttäuscht über die Zurückhaltung einer ganz bestimmten Person. Von diesem niedlichen Jungen hatte ich überhaupt keine Reaktion bemerkt. Hatte er mich überhaupt wahrgenommen? Er hatte sich nur einmal ganz kurz umgedreht.

»Tja, aus dem gemütlichen Abend wird wohl nichts«, sagte ich zu den anderen, als ich wieder an unserem eigenen Tisch Platz nahm. »Ein paar haben noch nicht ausgepackt, ein paar wollen früh ins Bett. Ich hab so das Gefühl, die passen nicht so gut zusammen wie wir. Ist irgendwie ziemlich ruhig da drüben am Tisch.«

»Vielleicht kommen sie ja doch noch«, meinte Gudrun. »Zumindest ein paar von ihnen.«

Nach einer Weile standen wir auf und gingen hinaus in die Halle, wo wir erst einmal eine Sitzgruppe in Beschlag nahmen. Es dauerte etwa fünf Minuten, bis die beiden jungen Damen, die noch ihre Koffer auspacken wollten, aus dem Speisesaal kamen. Sie würdigten uns keines Blickes und verschwanden sofort im Treppenhaus.

Dann liefen auch die restlichen Mitglieder der anderen Gruppe nach und nach an uns vorbei. Naja, von denen kam dann doch das eine oder andere Lächeln oder zumindest ein entschuldigender Blick. Hey, und dieser süße Boy lächelte mich tatsächlich schüchtern an. Oder bildete ich mir das nur ein? Wahrscheinlich lächelte er ja wirklich nur uns allen zu. Dann verschwand er auch schon im Fahrstuhl.

Als letzter kam Armin aus dem Speisesaal. Zumindest er kam zu uns herüber. Er kannte uns ja auch schon etwas besser als die anderen.

»Schade, dass die anderen alle keine Lust haben«, meinte er. »Ich glaub, manche trauen sich einfach nicht. Die wollen wohl gar nicht so genau von euch erfahren, was hier so alles auf sie zukommt.«

»Hey, es ist doch ganz nett hier, was haben die denn nur?« meinte Nadine. »Willst wenigstens du 'ne Weile bei uns hier bleiben?«

»Ich weiß nicht so recht. Ihr habt jetzt sicher schon was anderes vor, oder? Ich will euch wirklich nicht stören.«

»Unsinn, du störst nicht! Bleib ruhig hier. Du kannst ja immer noch aufs Zimmer gehen, wenn's dir bei uns nicht gefällt. Wie nehmen dir das dann schon nicht übel.«

Ich wollte unbedingt, dass Armin hier blieb. Vielleicht erfuhr ich durch ihn ja schon etwas mehr über den anderen Jungen.

»Na gut«, willigte er schließlich ein und setzte sich zu uns.

Dann fragte er erst einmal uns aus. Wie denn die Therapeuten so wären und die Ärzte. Ob das Essen gut wäre und all so was. Ich kam überhaupt nicht dazu, ihm selbst irgendwelche Fragen zu stellen. Ich hätte wohl ohnehin nicht gewusst, wie ich ihn auf den anderen Jungen hätte ansprechen sollen. Schließlich konnte ich nicht einfach sagen, dass ich den ziemlich süß fand und unbedingt mehr über ihn wissen wollte. Wahrscheinlich wusste Armin ja selbst noch nicht viel über ihn.

Später erzählte er dann doch noch ein wenig von sich aus von den anderen Mitgliedern seiner Gruppe. Die erste Zusammenkunft mit dem Psychologen war wohl ziemlich unergiebig gewesen. Keiner hatte viel über sich erzählt. Armin hatte den Eindruck, dass die Problematiken der einzelnen Gruppenmitglieder nicht besonders miteinander harmonierten. Die acht würden wohl auf jeden Fall noch eine Weile brauchen, um miteinander klar zu kommen.

Von dem anderen Jungen wusste Armin eigentlich nur, dass er Daniel hieß und 18 oder 19 war. An das genaue Alter konnte er sich inzwischen schon nicht mehr erinnern. Wahrscheinlich interessierte Armin sich eben mehr für die Mädchen in der Gruppe.

Daniel hieß dieser Junge also. Daniel und David. Unsere Vornamen würden schon mal ganz gut zusammenpassen.

Armin verabschiedete sich dann doch recht bald wieder und ließ uns alleine in der Halle zurück. Wir holten uns wieder irgendein Spiel von der Rezeption. Ich war den Rest des Abends aber nicht so recht bei der Sache.

Als ich später in meinem Bett lag, konnte ich nicht einschlafen. Die ganze Zeit über musste ich an diesen Daniel denken. Ich fragte mich, was er jetzt wohl gerade machte. Ob er vielleicht schon schlief? Oder konnte er nicht schlafen in seiner ersten Nacht hier in der Klinik? Was dachte er wohl gerade? Wie fühlte er sich? Fühlte er sich vielleicht einsam und alleine in seinem Einzelzimmer? Ich fragte mich, warum er hier war. Was war der Grund für seinen Aufenthalt in der Klinik? Ich hätte so gerne mehr über ihn erfahren.

Noch nicht einmal sein Gesicht hatte ich mir richtig einprägen können. Ich hatte ihn ja nur ein paar kurze Augenblicke lang gesehen. Nur mit Mühe konnte ich mir jetzt noch seine Gesichtszüge in Erinnerung rufen. Wie hatten noch mal seine Augen ausgesehen? Welche Form hatte seine Nase gehabt? Und sein Mund? Ich wusste eigentlich nur noch, dass ich ihn wahnsinnig niedlich gefunden hatte. Aber vielleicht hatte das ja nur daran gelegen, dass es hier so wenig andere süße Jungs gab? Vielleicht sah er ja doch nicht so umwerfend aus, wie ich im ersten Moment geglaubt hatte? Möglicherweise gefiel er mir morgen schon gar nicht mehr so gut. Oder war es sogar nur dieser Kapuzenpulli gewesen, der mich an ihm so fasziniert hatte?

Trotzdem wünschte ich mir im Moment nichts sehnlicher als bei ihm zu sein und ganz dicht neben ihm zu liegen. Körper an Körper. Ich wollte ihn in meinen Armen halten, ihn ganz sanft streicheln und seinen Körper unter diesem flauschigen Pulli spüren. Und ich wollte ihm diese Kapuze über den Kopf ziehen und ihm dann ganz lange ins Gesicht sehen.

Oh Mann, ich musste schnell wieder aufhören, an solche Sachen zu denken. Sicher würde nichts von alledem jemals passieren. Ich wusste doch, wie unwahrscheinlich es war, dass Daniel tatsächlich schwul und dazu auch noch an mir interessiert war. Vielleicht hatte er ja sogar eine Freundin, die zu Hause auf ihn wartete und an die er jetzt dachte.

Tausend Fragen gingen mir durch den Kopf, während ich mich so im Bett herumwälzte. An Schlaf war überhaupt nicht zu denken. Immer wieder sah ich auf den Wecker. Die Zeiger schienen sich kaum zu bewegen. Die Nacht würde überhaupt kein Ende nehmen, wenn ich nicht bald einschlafen konnte.

Ich überlegte, wie ich am nächsten Tag mit Daniel ins Gespräch kommen konnte. Würde sich dazu überhaupt eine Gelegenheit ergeben? Was sollte ich zu ihm sagen? Wann würde ich ihn das nächste Mal sehen? Schon beim Frühstück? Oder erst beim Mittagessen? Vielleicht traf ich ihn ja auch zufällig auf dem Gang oder in der Halle.

Nachdem ich mich stundenlang mit diesen und vielen anderen Fragen herumgequält hatte, war ich schließlich doch noch irgendwann eingeschlafen, voller Erwartung auf den nächsten Tag.

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