Winterregen (Weirdos) - Eine Story von Robin

 

Kapitel 3 - Geständnisse

Es war kurz nach halb acht, als ich mittwochmorgens aufwachte. Mein Wecker hatte noch nicht geklingelt. Ich fühlte mich wie gerädert. Mein unruhiger Schlaf in der zweiten Nachthälfte war alles andere als erholsam gewesen. Kevin schlief noch tief und fest. Ich gönnte ihm die Ruhe von ganzem Herzen. Leise nahm ich frische Wäsche aus meinem Kleiderschrank und stellte mich unter die Dusche. Ich blieb so lange unter dem prickelnden Wasserstrahl stehen, bis ich mich wieder einigermaßen frisch und munter fühlte. Als ich mit T-Shirt und Boxershorts bekleidet zurück ins Zimmer kam, war Kevin bereits angezogen. Ich wünschte ihm einen guten Morgen.

»Morgen«, erwiderte er leise. Er schien immer noch recht bedrückt und niedergeschlagen zu sein.

»Tut mir leid wegen heute Nacht«, meinte er nach einer Weile.

Ich hatte inzwischen Socken angezogen und schlüpfte gerade in meine Jeans.

»Hey, das muss dir nicht leid tun«, antwortete ich. »Wirklich nicht.«

»Ist sicher kein Spaß mit mir in einem Zimmer.«

Eigentlich konnte ich ihm da nicht widersprechen. Ich fühlte mich mit der Situation völlig überfordert. Andererseits spürte ich den Drang, ihm beizustehen und ihm zu helfen, so gut ich konnte. Außerdem fand ich ihn immer noch unglaublich süß.

Ich klopfte ihm auf die Schulter und sagte aufmunternd: »Ist schon okay.«

Während Kevin ins Bad ging, nahm ich eines meiner Kapuzensweatshirts aus dem Schrank und schlüpfte hinein. Meine seelische Verfassung schien langsam wieder besser zu werden, denn ich genoss es richtig, die dicke Kapuze auf meinem Kopf zu fühlen. Am Tag zuvor hätte ich daran wohl kaum Gefallen gefunden. Ich nahm die Kapuze erst ab, als Kevin wieder die Badtüre öffnete.

Dann gingen wir beide hinunter in die medizinische Zentrale. Es warteten schon einige der anderen Neuankömmlinge vor der Tür, allerdings entdeckte ich niemanden aus unserer Gruppe. Als wir endlich an die Reihe kamen, nahm man uns zuerst die Becher mit unseren Urinproben ab. Anschließend wurden wir gewogen und gemessen. Nach einer Blutdruckmessung und Blutabnahme war die lästige Prozedur schließlich beendet. Kevin war vor mir fertig geworden und wartete vor der Tür auf mich.

»Gehen wir gleich frühstücken?« fragte er, als ich herauskam.

Ich freute mich, dass er nicht wie bisher gleich wieder verschwunden war, und kam gerne mit. Wir waren die letzten aus unserer Gruppe, die an diesem Morgen im Speisesaal erschienen. Nur Gudrun saß noch am Tisch, aber auch sie war bereits fertig. Die anderen waren schon wieder auf die Zimmer gegangen. Auch zum Frühstück stand wieder ein Büffet bereit. Mit zwei Semmeln, etwas Butter, Streichkäse und Kalbsleberwurst kam ich zum Tisch zurück. Ich war kein großer Fan von Marmelade und Honig. Auf dem Tisch wartete bereits eine Kanne mit heißem Kaffee. Gudrun hatte sie für uns an einem Behälter in der Mitte des Speisesaales aufgefüllt. Eigentlich trank ich ja lieber Tee zum Frühstück. Da sie sich aber extra die Mühe gemacht hatte, ließ ich mir heute zur Abwechslung eben mal eine Tasse Kaffee schmecken.

Gudrun hatte eine schlechte Nachricht für uns. Stefanie hatte sich entschieden, die Klinik wieder zu verlassen. Sie hatte Schuldgefühle, weil Sie ihr kleines Kind alleine bei ihrem Ehemann und ihren Schwiegereltern gelassen hatte. Das Gefühl, ihren Mutterpflichten nicht nachzukommen, hatte sie die Nacht über kaum schlafen lassen. Beim Frühstück hatte sie den anderen ihre Entscheidung verkündet. Ihr Mann würde sie später abholen.

Ich war nicht unbedingt traurig darüber, schließlich kannte ich Stefanie noch kaum. Sie war einige Jahre älter als wir anderen und ich hatte sowieso den Eindruck gehabt, sie würde nicht richtig in die Gruppe passen.

Wir ließen uns mit dem Essen Zeit und Gudrun leistete uns Gesellschaft, bis wir fertig waren. Kevin war immer noch nicht besonders gesprächig, sagte aber wenigstens das eine oder andere Wort. Gudrun dagegen wurde mir immer sympathischer. Es konnte doch gar nicht so schwer sein, irgendwo einen Mann für sie aufzutreiben, der sie genau so mochte, wie sie war.

Bis zu meinem Einzelgespräch mit Frau Fröschl blieb mir nur noch wenig Zeit, die ich dazu nutzte, mir Getränke und ein paar Süßigkeiten im Kiosk der Klinik zu besorgen. Kevin war mitgekommen und nahm meine Einkäufe zusammen mit seinen eigenen mit auf unser Zimmer, während ich gleich zur Psychologin marschierte.

Eine geschlagene Stunde dauerte unser Gespräch. Sie wollte meinen kompletten Lebenslauf in allen Einzelheiten wissen. Als das Thema Sexualität zur Sprache kam, erzählte ich ihr, dass ich glaubte, schwul zu sein. Sie war der erste Mensch, dem ich dies jemals offenbart hatte. Meinen Fetisch erwähnte ich allerdings nicht. Natürlich wollte Sie auch alles über meine Angstattacken wissen. Sie teilte mich schließlich in eine Gruppe zur Angstbewältigung ein und verordnete mir autogenes Training.

Als ich ihr Zimmer kurz nach elf verließ, wartete Kevin bereits vor der Tür.

»Ist halb so wild«, munterte ich ihn auf. Er schien etwas Aufheiterung nötig zu haben.

»Ich warte auf dich in unserem Zimmer, okay?«

Er nickte mir zu und betrat zögerlich den Raum der Psychologin.

Bereits eine halbe Stunde später war er zurück. Er wirkte ziemlich verstört und sah niedergeschlagen aus. Das Gespräch war anscheinend nicht besonders erfreulich verlaufen. Ich verkniff mir Bemerkungen wie »Das ging aber schnell!« oder »Schon wieder da?«

Er setzte sich auf sein Bett und ich ging zu ihm hinüber.

»Hast du was dagegen, wenn ich mich neben dich setze?« fragte ich ihn.

Er blickte kurz auf und schüttelte dann den Kopf. Dann ließ er wieder traurig den Kopf hängen.

Ich setzte mich zu ihm auf das Bett und legte ihm einen Arm um die Schultern. Ich hatte keine Ahnung, was ich sagen sollte, um ihn wieder etwas aufzurichten. Ich strich ihm schweigend einmal durch seine langen lockigen Haare und massierte dann eine Weile seine Schulter. Er schien dagegen nichts einzuwenden zu haben. Eine Zeitlang saßen wir so schweigend nebeneinander.

»Du hast ihr nicht viel erzählt, oder?« fragte ich irgendwann vorsichtig.

Er schüttelte leicht den Kopf. Ich fühlte mich hilflos. Mir fielen einfach nicht die richtigen Worte ein. Schließlich wollte ich ihm helfen und die Situation nicht noch schwerer für ihn machen.

»Ich kann einfach nicht darüber reden«, sagte er schließlich selbst. Seine Stimme klang verzweifelt. Am liebsten hätte ich ihn in meine Arme genommen, traute mich aber nicht. Ich hatte ja keine Ahnung, wie er darauf reagieren würde.

»Wenn ich dir irgendwie helfen kann, dann sag es einfach, okay?« brachte ich schließlich heraus. Wieder war ich mir unsicher, wie er meine Worte aufnehmen würde. Ich versuchte verzweifelt, ihm klarzumachen, dass ich immer für ihn da war, falls er reden wollte oder Hilfe brauchte, hatte aber keine Ahnung, wie ich ein echtes Vertrauensverhältnis mit ihm aufbauen konnte. Es schien unendlich schwer, an ihn heranzukommen.

Als er schließlich nickte und leise »Okay« stammelte, war ich erleichtert.

»Kommst du mit nach unten? Es gibt gleich Mittagessen«, fragte ich ihn.

Er schüttelte den Kopf.

»Ich bring jetzt nichts runter.«

Eigentlich war ich auch noch nicht hungrig. Normalerweise aß ich keine zwei Semmeln zum Frühstück. Meistens begnügte ich mich mit einer Tasse Tee und einem Stück trockenen Kuchen, wenn ich überhaupt etwas aß.

»Wir können auch in den Ort gehen«, schlug ich vor. »Wird Zeit, dass ich hier mal rauskomme. Vielleicht kommst du dann ja auch auf andere Gedanken.«

Er schien nicht besonders begeistert zu sein und zuckte gleichgültig mit den Schultern. Ich stand auf und versuchte es noch einmal.

»Hey, komm schon. Ich schätze mal, das wird uns beiden ganz gut tun.«

Er seufzte tief, erhob sich dann aber. Während er aus seinem Kleiderschrank eine dunkelgrün-hellbeige Snowboardjacke mit angeschnittener Kapuze herausholte, schlüpfte ich bereits in meine Schuhe und meine Daunenjacke. Die Kapuze meines dicken grauen Sweatshirts breitete ich über dem Jackenkragen aus. Nachdem er sich ebenfalls angezogen hatte, fuhren wir mit dem Fahrstuhl in den Keller hinunter. Hier befand sich der Eingang zur Rückseite des Gebäudes, der rund um die Uhr geöffnet war. Von hier aus verlief ein Fußweg an dem kleinen See vorbei direkt in den Ort Bad Neuheim.

»Wow, ganz schön kalt«, meinte ich, als wir ins Freie traten. Die Luft an diesem Januartag war eisig und es wehte ein leichter, aber unangenehmer Wind. Wir schlossen die Reißverschlüsse unserer Jacken bis hoch zum Kinn und liefen los.

»Kannst du Schlittschuhlaufen?« fragte ich ihn, als wir uns dem See näherten. Am Vormittag hatte ich am gegenüberliegenden Ufer zwei Schlittschuhläufer beobachtet. Das Eis schien also zu tragen.

»Ja, ist aber schon ein paar Jahre her. Und du?«

»Nein, ich hab aber Inline-Skates. Vielleicht kann man sich hier irgendwo Schlittschuhe leihen. Dann könnte ich es mal ausprobieren.«

Als wir den See erreicht hatten, stieg ich die Böschung zum Eis hinunter. Überall waren Fußspuren und die Rillen zahlloser Schlittschuhkufen zu erkennen. Kevin folgte mir und wir schlitterten eine Weile auf dem Eis herum. Mit der Zeit näherten wir uns dabei den Häusern des Ortes. Um ganz sicher zu gehen, blieben wir immer nahe am Ufer. Das Wasser konnte hier kaum tiefer als einen Meter sein. Kevins Stimmung schien sich langsam aufzuhellen. Als wir über das Eis die gegenüberliegende Seite des Sees erreicht hatten, war das erste Haus nur noch wenige hundert Meter entfernt. Uns war durch die Herumtollerei ganz schön warm geworden.

Der Ort hatte etwa 5000 Einwohner. Bis zur Ortsmitte mit den Geschäften war es noch ein ganzes Stück. Als wir nebeneinander her liefen, kam ich zum ersten Mal mit Kevin richtig ins Gespräch. Ich erzählte ihm von meiner Familie. Von meinem Vater, dessen Werbeagentur ihn immer auf Trab hielt, und von meiner Mutter, die in der Spedition arbeitete, die meine Großeltern nach dem Krieg aufgebaut hatten. In ein oder zwei Jahren würde sich mein Großvater endgültig aus dem Geschäft zurückziehen. Dann würde er meiner Mutter und meinem Onkel jeweils 50 Prozent an dem Unternehmen überschreiben und die beiden würden gemeinsam die Geschäfte weiterführen. Seit meine Angststörung ernster geworden war und auch meine Großeltern immer mehr mitbekommen hatten, dass etwas mit mir nicht stimmte, hatte mein Großvater sogar eine Weile daran gedacht, einen Anteil an der Firma direkt an mich zu übertragen, damit meine Zukunft gesichert war. Nur mit Mühe hatte ich ihn davon überzeugen können, dass dies nicht nötig war.

Kevins Vater war Rechtsanwalt und Notar, nicht der Geschäftsführer irgendeiner Firma, wie ich zuerst vermutet hatte. Seine Mutter betrieb gemeinsam mit einer Freundin eine Boutique. Nachdem er kurz von seinen Eltern erzählt hatte, wurde er still.

»Hast du Geschwister?« fragte er nach einer Weile leise.

Ich erschrak. Wollte er nun von seinem Bruder erzählen?

»Nein«, sagte ich knapp und schüttelte den Kopf..

Ich wagte nicht, ihm nun dieselbe Frage zu stellen. Erwartete er das jetzt von mir? Schließlich konnte er nicht wissen, dass ich über den Tod seines Bruders Bescheid wusste. Oder ahnte er, dass seine Eltern mit mir geredet hatten?

Wir schwiegen beide eine Weile. Schließlich wagte ich es doch, ihn zumindest indirekt auf das Thema anzusprechen.

»Kevin?« begann ich zögerlich.

»Ja?«

»Ich glaube, ich sollte dir etwas sagen.«

»Was ist?«

»Ich habe deine Eltern gestern unten in der Eingangshalle getroffen, bevor sie gegangen sind.«

Kevin blieb plötzlich stehen. Er schien zu ahnen, was ich ihm mitteilen wollte.

»Haben sie dir was gesagt?« fragte er. Er wirkte etwas erschrocken.

Ich drehte mich zu ihm um und nickte.

»Dann weißt du also Bescheid?«

»Naja, die wichtigsten Dinge haben sie mir verraten«, meinte ich schulterzuckend.

Ich hatte schon Angst, er würde nun davonlaufen. Immer noch konnte ich seine Reaktionen nicht richtig einschätzen. Einen Moment lang stand er nur stumm da und sah mich an.

»Gut«, sagte er schließlich und atmete dabei tief durch.

»Alles klar mit dir?« fragte ich ihn.

Er nickte.

»Hast du den anderen schon was erzählt?« wollte er wissen.

Ich schüttelte den Kopf.

»Danke«, sagte er schließlich.

»Wofür?« fragte ich verwundert.

»Dass du nicht gleich alles ausgeplaudert hast.«

»Warum hätte ich das tun sollen?«

Er zuckte mit den Schultern. Noch einen Moment standen wir uns schweigend gegenüber.

»Los, gehen wir weiter«, meinte er schließlich.

Wir schlenderten durch den Ort, bis wir an einem kleinen Café vorbeikamen.

»So langsam bekomme ich Hunger«, bemerkte ich. »Gehen wir da mal rein?«

Kevin war einverstanden. Mir war inzwischen wieder richtig kalt geworden und ich freute mich auf den warmen Raum.

Mittags hatte das Café auch ein paar einfache warme Gerichte im Angebot. Ich bestellte mir eine Portion Bratkartoffeln mit Rührei und ein Glas heißen Tee. Kevin entschied sich für einen Toast mit Schinken und Käse und eine Cola. Inzwischen schien auch er wieder etwas Appetit zu haben.

Ich rieb meine halb erfrorenen Ohren.

»Ist dir überhaupt nicht kalt?« fragte ich Kevin.

Er zuckte nur mit den Schultern.

Wir sprachen nicht viel, als wir am Tisch saßen und auf unser Essen warteten. Kevin schien nun doch nicht mehr über seinen Bruder reden zu wollen. Möglicherweise hatte ich eben mit meinem Geständnis seine Bereitschaft dazu bereits wieder zerstört. Als die Bedienung schließlich unsere Teller brachte, war uns der Gesprächsstoff völlig ausgegangen. Wir aßen schweigend und zahlten, sowie wir fertig waren.

»Gehen wir noch ein Stück weiter oder willst du wieder zurück?« fragte ich Kevin, als wir das Café wieder verlassen hatten und unschlüssig auf dem Gehweg herumstanden.

»Wir haben noch Zeit, oder?« fragte er zurück.

Ich sah auf meine Uhr. Es war gerade einmal 13.30 Uhr. Noch anderthalb Stunden, bis die Gruppensitzung losging.

»Ja, genug«, antwortete ich.

»Also wegen mir müssen wir nicht eher zurück, als unbedingt nötig.«

»Du bist also doch ganz froh, dass du mit raus gekommen bist, oder?« stellte ich lächelnd fest.

Er grinste, wurde aber schnell wieder ernst.

»Ich bin nicht freiwillig hier in der Klinik. War nur die bessere Alternative«, sagte er schließlich.

»Ich weiß«, antwortete ich leise.

»Das haben sie dir also auch erzählt.«

Ich nickte.

»Komm, wir gehen noch bis zum anderen Ortsrand«, forderte ich ihn schließlich auf.

»Wenn dir nicht zu kalt ist?« fragte er besorgt zurück.

Ich nutzte die Gelegenheit und zog mir endlich die Kapuze meines Sweatshirts über den Kopf.

»Geht schon«, antwortete ich und vergrub meine Hände in den Taschen meiner Daunenjacke.

Als wir uns endlich in Bewegung setzten, grinste er mich an.

»Die hättest du vorhin auch schon aufsetzen können«, bemerkte er.

Ich zuckte mit den Schultern.

Er griff nun selbst nach der Kapuze seiner Snowboardjacke und setzte sie auf. Ich konnte nicht anders, als ihn dabei aus den Augenwinkeln zu beobachten. Mit der Kapuze auf dem Kopf fand ich ihn noch süßer als sonst. Ein paar seiner langen Locken lugten unter der Kapuze hervor. Ich fand seinen Anblick ungeheuer erregend und musste mich beherrschen, ihn nicht anzustarren.

»War es deine Entscheidung, hier in die Klinik zu kommen?« fragte er, als wir ein paar Meter gelaufen waren.

»Mehr oder weniger«, antwortete ich. »Ich bin ja am Ende kaum noch in die Schule gegangen. Die letzten drei Klausuren hab ich komplett versäumt. Mein Abi hätte ich endgültig abschreiben können, wenn das so weiter gegangen wäre.«

»Kann dir doch eigentlich egal sein, wenn deine Eltern so viel Kohle haben.«

Ich zuckte mit den Schultern.

»Das sagt mein Großvater auch: 'Junge, vergiss dein Abi. Komm hier in die Firma, da brauchst du kein Abi für. In der Schule lernst du eh nichts, was du hier brauchen kannst.'«

Wir mussten beide lachen. Es war das erste mal, dass ich Kevin laut lachen hörte.

Ich erzählte ihm mehr von meinen Großeltern. Mein Großvater war der einzige gewesen, der in den letzten Monaten einen kühlen Kopf bewahrt hatte. Meine Eltern hatten mit der neuen Situation genau so wenig umgehen können wie ich selbst und waren ab und zu auch genau so verzweifelt gewesen. Gerade die letzten Wochen waren teilweise recht tränenreich verlaufen. Ohne meinen Großvater wäre alles noch schwerer gewesen. Er war der einzige, der mich die ganze Zeit über wie einen normalen Menschen behandelt hatte, ohne aber meine Probleme deswegen weniger ernst zu nehmen. Immer wieder hatte er mir Lösungsmöglichkeiten aufgezeigt, die Arbeit in seiner Firma war nur eine von vielen gewesen. Über einen alten Freund, einen pensionierten Psychiater, war ich schließlich hier in der Klinik gelandet.

Wir waren wieder richtig gut ins Gespräch gekommen, auch wenn ich meistens über mich und mein Leben erzählte. Kevin hörte aber interessiert zu und stellte häufig Fragen. Wir hatten gerade das letzte Haus passiert und das Ortsschild erreicht, als er eine Frage stellte, die ich bereits seit einiger Zeit ängstlich erwartet hatte.

»Hast du eigentlich 'ne Freundin?« wollte er wissen.

War jetzt die Stunde der Wahrheit gekommen? Sollte ich ihm erzählen, dass ich schwul war? Wie würde er auf mein Geständnis reagieren? Die Klinik lag in weiter Entfernung. Falls er sauer oder verständnislos reagieren würde oder sogar entsetzt darüber wäre, mit einem Homosexuellen gemeinsam in einem Zimmer geschlafen zu haben, würde der Weg zurück die reinste Hölle werden. Irgendwie hatte ich aber nicht den Eindruck, dass er so negativ reagieren würde. Ich glaubte, ihn inzwischen gut genug zu kennen. Also nahm ich all meinen Mut zusammen und formulierte ganz vorsichtig eine Frage: »Hättest du ein Problem damit, wenn ich dir sagen würde, dass ich schwul bin?«

Ich wagte nicht, ihn dabei anzusehen, und starrte stattdessen auf einen der Pfosten am Straßenrand.

Seine Reaktion kam prompt.

»Echt?« fragte er. Er hörte sich weder wütend noch entsetzt an, sondern irgendwie neugierig oder belustigt. Als ich ihn verstohlen ansah, schüttelte er grinsend den Kopf.

»Was ist?« fragte ich verwundert. Ich konnte mir auf seine Reaktion keinen Reim machen. »Warum reagierst du so?«

»Sorry«, sagte er nur kurz und grinste die ganze Zeit über.

»Was ist daran so komisch? Bist du auch schwul, oder was soll das?« fragte ich verständnislos.

»Nee«, sagte er gedehnt. »Ich bin nicht schwul.«

Ich war etwas enttäuscht. Insgeheim hatte ich mir doch Hoffnungen gemacht, obwohl die Wahrscheinlichkeit natürlich gering gewesen war.

»Höchstens ein kleines bisschen bi«, fügte er hinzu. »Aber ich glaub ja, das sind alle Menschen.«

Er ließ mich immer noch im Unklaren darüber, was es mit seinem merkwürdigen Verhalten auf sich hatte.

»Was soll dann deine Reaktion?« fragte ich nochmals. »Ist das so witzig, dass ich schwul bin?«

»Nein, keine Sorge. Es macht mir nichts aus, dass du schwul bist, ehrlich«, sagte er endlich. »Zwei meiner besten Kumpels sind schwul. Ich hab mit denen schon oft gemeinsam in einem Zimmer übernachtet und war mit denen letztes Jahr sogar Zelten. Ich hab also wirklich kein Problem damit. Ich find es nur so witzig, weil ich irgendwie ständig Leute kennen lerne, die schwul sind. Und jetzt auch noch du. Eigentlich hätte ich es ahnen müssen.«

»Ach so, ich hab schon gedacht, du machst dich über mich lustig«, sagte ich erleichtert.

»Hey, keine Sorge, ist schon okay«, erwiderte er und klopfte mir auf die Schulter.

Ich war froh, dass er jetzt Bescheid wusste. Wir machten uns auf den Rückweg. Das Thema schien für ihn erledigt zu sein, denn von nun an plauderten wir über die verschiedensten anderen mehr oder weniger belanglosen Themen. Je näher wir der Klinik kamen, desto ruhiger wurde Kevin wieder. Schweigend erreichten wir schließlich den Eingang unten im Keller. Wir nahmen unsere Kapuzen ab und traten in den Aufzug. Uns blieben nur noch knapp zehn Minuten bis zur Gruppensitzung.

Nachdem wir unsere Jacken im Zimmer abgeliefert hatten, gingen wir gemeinsam nach vorne in den Gruppenraum. Kevin setzte sich diesmal neben mich. Gudrun war so nett und rutschte einen Stuhl weiter zur Tür. Stefanies Platz blieb frei. Sie war inzwischen abgereist.

Nadine und Gudrun bestritten den größten Teil der Gruppensitzung im Alleingang. Sie schienen die offensten und gesprächigsten in der Gruppe zu sein. Gudrun erzählte vor allem, wie sie wegen ihres Übergewichts von ihren Arbeitskollegen gemobbt worden war. Ich wurde richtig wütend, als ich hörte, was sie so alles hatte über sich ergehen lassen müssen, und konnte mir das ein oder andere Schimpfwort in Bezug auf ihre Kollegen nicht verkneifen. Nadine berichtete weiter über ihre vergangenen Therapien. Ich wunderte mich, dass sie nie direkt über ihre Magersucht und die Gründe dafür sprach. Sie schien irgendein Geheimnis zu verbergen.

Nachdem Frau Fröschl nach dem Ende der Sitzung wieder gegangen war, blieben wir noch eine Weile im Vorraum vor dem Fahrstuhl stehen. Gudrun berichtete noch von einigen weiteren Erlebnissen an ihrem Arbeitsplatz. Sie ließ ihrer aufgestauten Wut über ihre Kollegen freien Lauf und hörte erst auf zu erzählen, als sie genügend Dampf abgelassen hatte und sich wieder besser fühlte.

Die restliche Zeit bis zum Abendessen verbrachte ich mit Kevin auf unserem Zimmer. Wir lagen angezogen auf unseren Betten und wechselten ab und zu ein paar Worte.

»Gudrun war eben ganz schön in Fahrt, was?« stellte Kevin fest.

»Ja, ich kann sie aber gut verstehen. An ihrer Stelle wäre ich genauso wütend.«

»Irgendwie finde ich sie ganz nett.«

»Hey, sie ist total nett.«

»Wenn sie nur nicht so dick wäre...«

»Mensch, sie kann nichts dafür«, verteidigte ich sie.

»Ja, ich weiß, so hab ich das auch nicht gemeint. Sie wäre eigentlich ganz hübsch, wenn ... du weißt schon. Wenn sie etwas abnehmen würde.«

Ich grinste zu Kevin hinüber.

»Dann würde sie dir vielleicht sogar gefallen, oder?« fragte ich.

»Ach, ich weiß nicht. Irgendwie mag ich eben ihre Art. In letzter Zeit hab ich einfach verdammt wenig hübsche Mädels zu Gesicht bekommen.«

»Damit hätte ich keine Probleme«, bemerkte ich grinsend.

Kevin grinste zurück.

»Besonders viele süße Jungs gibt's hier aber auch nicht«, erwiderte er neckisch.

»Naja, du bist ja hier«, antwortete ich scherzhaft.

»Bist du vielleicht scharf auf mich, oder was?« fragte er ebenso scherzhaft zurück.

Ich wurde etwas verlegen und blickte an die Decke.

»Und wenn es wirklich so wäre?« fragte ich nach einem kurzen Moment leise ohne ihn anzusehen.

Ängstlich wartete ich auf seine Reaktion.

»Naja, solange du mich nachts nicht vergewaltigst ...«, kam es nach einer längeren Pause aus Kevins Ecke.

Als ich zu ihm hinüberblickte hatte er sich aufgesetzt und grinste mich breit an.

»Oh Mann, du hast vielleicht einen Humor«, sagte ich befreit.

Ich konnte mir zum ersten Mal richtig vorstellen, wie Kevin vor dem Tod seines Bruders gewesen sein musste. Der Unfall musste sein Leben von einem Tag auf den anderen völlig verändert haben.

Für einen Moment setzte Schweigen ein.

»Mal im Ernst, du findest mich schon ganz scharf, oder?« fragte er nach einer Weile.

Ich zuckte mit den Schultern.

»Du bist ja auch süß. Was soll ich denn machen?«

Meine Stimme klang fast etwas verzweifelt.

»Ist schon in Ordnung. Ich nehm dir das nicht übel.«

Er lächelte zu mir herüber. Ich war erstaunt, dass er das alles so locker nahm. Gleichzeitig war ich natürlich unendlich erleichtert. Wenn ich ein echtes Vertrauensverhältnis zum ihm aufbauen wollte, musste er einfach die volle Wahrheit kennen. Irgendwann würde ich ihm wohl auch von meinem Fetisch erzählen. Im Moment war ich dazu aber noch nicht bereit.

 

Kapitel 4 - Albträume

Den Abend verbrachten wir mit den Mädchen in der Cafeteria. Christina suchte wieder die Spiele für uns aus. Als wir nach 23.00 Uhr zurück ins Zimmer kamen, war ich müde und erschöpft. Der wenige Schlaf in der vergangenen Nacht und der lange Spaziergang mit Kevin machten sich langsam bemerkbar. Ich zog mich aus und ging noch kurz ins Bad. Kurz nachdem ich ins Bett gefallen war, war ich auch schon eingeschlafen. Kevin war den ganzen Abend über relativ fröhlich und gut gelaunt gewesen und ich hatte mir deswegen keine Sorgen mehr um ihn gemacht. Ich ahnte beim Einschlafen nicht, dass ihm wieder eine qualvolle Nacht bevorstand.

Kurz nach zwei Uhr wurde ich wach. Normalerweise hätte ich mich wohl nur kurz umgedreht und wäre sofort wieder eingeschlafen, wäre der Raum nicht vom Mondlicht erhellt gewesen. Irgendwie musste ich das im Halbschlaf registriert haben. Es dauerte wohl eine Minute, bis ich halbwegs wach und orientiert war. Als ich schließlich richtig die Augen öffnete und erkundete, woher das Licht kam, erblickte ich Kevins Silhouette vor der Balkontür. Er hatte den Vorhang vor der Türe aufgezogen und blickte durch die Scheibe nach draußen. Anscheinend hatte er noch nicht bemerkt, dass ich aufgewacht war.

Leise richtete ich mich im Bett auf.

»Kevin?« flüsterte ich zu ihm hinüber.

Er wischte sich schnell mit dem Handrücken über die Augen, drehte dann seinen Kopf zur Seite und sah kurz zu mir herüber. Nach einem Moment blickte er wieder durch das Fenster.

»Kannst du wieder nicht einschlafen?« fragte ich ihn leise. Ich wollte auf jeden Fall vermeiden, dass sich meine Stimme irgendwie verärgert oder sogar vorwurfsvoll anhörte.

Er schüttelte langsam den Kopf.

Ich schlug die Bettdecke zurück, stand auf und ging langsam zu ihm hinüber. Es war kalt im Zimmer und ich fröstelte ohne meine warme Decke. Erst als ich direkt hinter ihm stand, bemerkte ich, dass er am ganzen Körper zitterte.

»Mensch, du frierst ja«, sagte ich ganz erschrocken.

Schnell lief ich hinüber zu Kevins Bett und holte seine Bettdecke. Sein Bett fühlte sich ganz kalt an. Offenbar stand er schon eine ganze Weile so da. Ich legte ihm die Decke vorsichtig um die Schultern. Bereitwillig griff er danach und wickelte sie sich so gut es ging um seinen Körper. Ich umarmte ihn von hinten und drückte ihn sanft an mich. Seine Locken kitzelten an meinem rechten Ohr. Eine Weile standen wir so schweigend da. Immer wieder wischte er sich mit einem Zipfel der Bettdecke ein paar Tränen aus den Augen. Ab und zu schniefte er. Mit der Zeit hörte er wenigstens auf zu zittern.

»Die Nächte sind die Hölle«, sagte er schließlich leise. Seine Stimme bebte. »Der absolute Horror.«

Er verstummte wieder und starrte schweigend in die Nacht. Ich stand jetzt direkt neben ihm vor dem Fenster, hatte meinen Arm um ihn gelegt und streichelte seine Schulter. Über das Balkongeländer konnte man gerade noch die äußerste Reihe des Klinikparkplatzes sehen. Ein paar Lampen warfen dort gespenstische Schatten auf das Pflaster. Die Silhouetten der Bäume im Hintergrund zeichneten sich im Mondlicht klar und deutlich ab. Ab und zu zogen auch um diese Zeit noch die Scheinwerfer von Autos hinter den dicken Stämmen vorbei. Der Mond stand direkt über unserem Fenster am sternenklaren Himmel. Es war Vollmond.

»Hey, ich bin bei dir«, flüsterte ich ihm zu. Ich wusste nicht, ob meine Worte ihm irgendwie helfen konnten. Ich fühlte mich hilflos und war mit der Situation völlig überfordert.

»Sobald ich im Bett liege, sehe ich immer wieder die Bilder vom Unfall vor meinen Augen«, sprach er nach einer Weile weiter. »Jede Nacht.«

Ich strich ihm sanft durch sein Haar. Wieder schwieg er eine Zeitlang.

»Und wenn ich dann doch endlich einschlafe, dann kommen diese scheiß Albträume.«

In seiner Stimme schwang so viel Verzweiflung mit, dass ich nun selbst Tränen in den Augen hatte.

Er drehte sich langsam zu mir um, und sah mich mit traurigen Augen an. Ein paar Tränen flossen ihm über die Wangen. Sie funkelten im Mondlicht.

»Ich weiß nicht, wie ich das alles aushalten soll«, presste er mit tränenerstickter Stimme heraus. Dann schluchzte er, legte seinen Kopf auf meine Schulter und begann hemmungslos zu weinen. Ich umarmte ihn und drückte ihn an mich, so fest ich konnte. Mir liefen nun selbst die Tränen herunter. Langsam bugsierte ich ihn hinüber zu seinem Bett und wir setzten uns nebeneinander auf die Bettkante. Ich hielt ihn noch immer eng umschlungen und ließ ihn sich an meiner Schulter ausweinen. Ich weiß nicht, wie lange wir so dasaßen. Nur langsam beruhigte er sich wieder. Irgendwann entwand er sich vorsichtig aus meiner Umarmung und wischte sich die Tränen weg.

»Oh Mann«, seufzte er tief durch und schüttelte dabei den Kopf.

Erst jetzt merkte ich, dass ich eiskalte Beine hatte und fürchterlich fror. Kevin hatte zwar immer noch die Decke um den Oberkörper gewickelt, seine Füße und Schenkel waren aber ebenfalls die ganze Zeit der Kälte im Zimmer ausgesetzt gewesen.

»Ist dir kalt?« fragte ich ihn.

Er nickte.

»Komm, leg dich wieder ins Bett.«

Er gehorchte und ich half ihm dabei, sich zuzudecken. Ich wickelte ihm die Decke fest um die Beine. Dann holte ich mir schnell meine eigene Decke, wickelte mich darin ein und setzte mich so zu Kevin aufs Bett. Kevin lag mit dem Gesicht zu mir auf dem Kopfkissen und sah mich an.

»Soll ich wieder die Ärztin rufen?« fragte ich ihn.

»Nein«, antwortete er entschieden und fügte ein fast flehentliches »Bitte nicht!« hinzu.

»Warum denn nicht?« fragte ich zurück.

»Bitte«, sagte er nochmals. »Ich hab Angst, dass die mich zurück in die Psychiatrie schicken, wenn ich jede Nacht Hilfe brauche.«

Er war nahe daran, wieder in Tränen auszubrechen.

»Wie kommst du darauf?«

»Ich weiß nicht, die Fröschl hat heute Vormittag so eine komische Bemerkung gemacht. Wegen gestern Nacht und so.«

Ich war völlig ratlos. Was sollte ich nur tun?

»Glaubst du, dass du jetzt schlafen kannst?« fragte ich ihn nach einer Weile.

Ich sah, wie er mit den Schultern zuckte. Das Mondlicht schien immer noch durch die offene Gardine. Vielleicht hätte ich vorhin doch besser Licht machen sollen.

Ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Einerseits wollte ich nicht gegen seinen Willen handeln, andererseits war mir klar, dass Kevin eigentlich wieder die Hilfe der Ärztin benötigte. Ich befand mich in einer Zwickmühle. Ich spürte, dass er nahe daran war, sich zu öffnen. Wenn er nun zurück in die Psychiatrie kam, würde dieser Fortschritt wahrscheinlich wieder zunichte gemacht werden. Außerdem hatte ich ihn lieb gewonnen und wollte die Zeit hier nicht mehr ohne ihn verbringen. Meine Gefühle zählten aber jetzt nicht, es ging nur darum, was für Kevin das Beste war. Und da war ich mir leider alles andere als sicher.

»Also gut«, sagte ich schließlich. »Ich werd erst mal niemanden holen. Vielleicht kannst du ja jetzt doch einschlafen.«

»Danke«, sagte er leise.

Ich stand auf. Mit der Bettdecke um meine Schultern lief ich hinüber zur Balkontür. Als ich gerade den Vorhang wieder zuziehen wollte, hörte ich Kevin sagen: »Kannst du den bitte offen lassen?«

»Ja, klar«, antwortete ich und machte mich auf den Weg zurück zu meinem Bett.

»David?« meldete sich Kevin leise, als ich mich gerade hinlegen wollte.

»Ja?«

»Kannst du bei mir bleiben?«

»Ich bin doch hier.«

»Nein, hier an meinem Bett«, flüsterte er schüchtern. »Kannst du dich zu mir ins Bett legen? Bis ich eingeschlafen bin?«

»Wenn du willst?«

»Ja.«

Ich nahm mein Kopfkissen und meine Decke und lief zu ihm hinüber. Er drehte sich auf die andere Seite und rückte mit seinem Kissen nahe an die Wand. Ich legte mein Kopfkissen neben seines und wickelte mich in meine Bettdecke. Dann legte ich mich neben ihn auf die Matratze.

»Versuch jetzt zu schlafen«, flüsterte ich ihm zu. Ich legte einen Arm um seinen Körper und blieb so ruhig wie möglich liegen, um ihn beim Einschlafen nicht zu stören. Nach einer Dreiviertelstunde hörte ich an seinem gleichmäßigen Atem, dass er schließlich doch noch eingeschlafen war.

Ich rollte mich ganz vorsichtig aus dem Bett und schlich hinüber zu meinem eigenen. Ich glaubte nicht, wieder einschlafen zu können. Zu aufwühlend waren die Ereignisse der Nacht gewesen. Irgendwann weit nach vier Uhr musste ich aber dann doch wieder eingeschlummert sein.

Kurz nach sieben wurde ich dann von einem Aufschrei geweckt. Ich war sofort hellwach. Draußen war es noch dunkel, der Mond war verschwunden. Bald würde es zu dämmern beginnen. Als ich hinüber zu Kevins Bett blickte, sah ich den Umriss seines Oberkörpers im Dunkeln. Er saß aufrecht im Bett und atmete heftig. Ich machte Licht. Er hatte sich mit den Händen hinter dem Rücken aufgestützt und ließ den Kopf hängen. Ich stand auf und kniete mich neben sein Bett. Er war nass geschwitzt. Schweißtropfen standen ihm auf der Stirn. Sein T-Shirt klebte an seinem Rücken.

»Hattest du einen Albtraum?« fragte ich ihn leise.

Sein Nicken war fast nicht zu bemerken. Er wirkte völlig verstört und schien mich kaum wahrzunehmen. Er sprach kein Wort, sah mich nicht einmal an.

»Ich hole jetzt Hilfe, okay?« sagte ich. Das war mehr eine Feststellung als eine Frage. Er gab mir ohnehin keine Antwort. Im Moment schien er völlig willenlos zu sein.

Ich griff zum Telefonhörer und wählte die Nummer der medizinischen Zentrale.

»Zentrale, Dr. Friedrichs«, meldete sich eine männliche Stimme.

»Hier ist Zimmer 213. Kann ich bitte Frau Dr. Ballheim sprechen?«

»Die ist gerade gegangen. Sie hat nur bis sieben Uhr Dienst.«

»Ach so«, sagte ich. »Ich brauche einen Arzt.«

»Ja, was ist los?« antwortete die Stimme.

»Mein Zimmergenosse hatte einen schlimmen Albtraum. Er ist völlig am Ende.«

»Sagen Sie ihm, er soll runter in die Zentrale kommen.«

»Können Sie nicht hochkommen?«

»Ist er körperlich nicht in der Lage, selbst zu kommen?« fragte die Stimme.

»Doch, ich denke schon«, antwortete ich zögerlich. »Er ist halt nicht angezogen.«

»Dann soll er sich anziehen und herunterkommen, okay?«

»Ja, na gut«, sagte ich enttäuscht und legte wieder auf. Diese Reaktion hatte ich nicht erwartet. Der Mann am anderen Hörer hatte sich fast desinteressiert angehört. Ich war ein wenig wütend über seine gleichgültige Haltung.

»Du sollst runter in die Zentrale kommen«, sagte ich leise zu Kevin.

Er wirkte immer noch völlig apathisch.

»So?« fragte er schließlich leise und zupfte dabei an seinem verschwitzten T-Shirt.

Ich zögerte einen Moment. Ich fühlte mich hilflos und alleingelassen. Warum konnte dieser blöde Arzt denn nicht hochkommen?

»Schaffst du es unter die Dusche?«

Er nickte. Langsam stand er auf und tappte geistesabwesend ins Bad. Ich war über seinen Zustand entsetzt und erkannte in ihm den gut gelaunten Jungen von gestern Nachmittag kaum wieder. Er schaltete das Licht in der Dusche ein, zog sein T-Shirt und seine Boxershorts aus und ließ beides achtlos am Boden liegen. Ich traute mich nicht, ihn jetzt alleine zu lassen. Er stellte sich neben die Dusche und wartete, bis ich das Wasser aufgedreht und die richtige Temperatur eingestellt hatte. Dann zog ich den Duschvorhang hinter ihm zu. Einen Spalt ließ ich offen. Nicht weil mich sein nackter Körper interessierte. Dafür fehlte mir im Moment jeder Sinn. Ich hatte einfach nur Angst um ihn und wollte ihn keinen Moment aus den Augen lassen. Er streckte seinen Arm durch den Spalt und ließ sich von mir einen großen Klecks Duschgel auf die flache Hand spritzen. Dann seifte er seine Haare und seinen Körper damit ein und blieb so lange unter dem warmen Wasserstrahl stehen, bis dieser die ganze Seife von alleine wieder abgewaschen hatte. Irgendwann stellte er schließlich das Wasser ab. Als ich gerade den Vorhang aufzog, um ihm sein Badetuch zu reichen, brach er plötzlich weinend zusammen. Er rutschte mit dem Rücken an der Wand hinunter und blieb mit angewinkelten Knien in der Duschwanne sitzen. Laut schluchzend saß er da, schlang seine Arme um die angezogenen Beine und legte den Kopf zwischen die Knie. Ich wickelte ihn vorsichtig in sein Badetuch und griff dann nach seiner Hand. Schwerfällig stand er auf. Ich nahm ihn einen Moment in die Arme und strich ihm durch das nasse Haar. Er schien sich mittlerweile wieder einigermaßen unter Kontrolle zu haben. Als er mich ansah, waren seine Augen nicht mehr so leer wie noch vor einigen Minuten. Er strich sich jetzt auch seine nassen Locken zur Seite, die ihm die ganze Zeit über ins Gesicht gehangen hatten. Bisher schien ihn dies nicht gestört zu haben. Er war nun auch nicht mehr so teilnahmslos und begann, sich abzutrocknen. Er wickelte sich das Badetuch um den Körper und nahm sich eines der anderen Handtücher, um sich damit die Haare trocken zu rubbeln. Ich hatte den Eindruck, dass ich ihn jetzt wieder alleine lassen konnte.

»Geht's wieder einigermaßen?« fragte ich ihn.

Er sah mich an und sagte: »Ja, ist okay.«

»Soll ich dir frische Wäsche bringen?«

»Lass nur, hol ich mir dann selber.«

Als ich das Bad verließ und gerade die Tür schließen wollte, rief er mir hinterher.

»Hey, David.«

Ich drehte mich um und steckte meinen Kopf noch einmal durch den Türspalt.

Kevin sah mich an und versuchte zu lächeln.

»Danke«, sagte er leise.

»Ist schon okay«, antwortete ich.

Während er sich fertig abtrocknete, kam ich endlich dazu, mich vollständig anzuziehen. Als ich fertig war, kam er mit dem Handtuch um die Hüften aus der Dusche und nahm sich frische Unterwäsche aus seinem Kleiderschrank. Er setzte sich auf sein Bett und zog sich langsam an.

»Geht's dir immer so schlecht, wenn du einen Albtraum hattest?« fragte ich ihn, als er in seine Socken schlüpfte.

Er nickte.

»Ich sag doch, es ist die Hölle«, antwortete er.

Als er fertig angezogen war und sich die Haare geföhnt hatte, ging ich mit ihm in die medizinische Zentrale hinunter. Er hatte mich gebeten mitzukommen. Noch immer sah er recht mitgenommen und niedergedrückt aus. Ich klopfte an und wir traten ein. Eine Theke teilte den Raum in zwei Teile. Der Platz hinter der Theke war dem Personal vorbehalten. Hier waren zwei Männer und eine Frau damit beschäftigt, Patientenakten durchzusehen. Außer uns beiden waren keine anderen Patienten im Raum.

»Guten Morgen«, sagte ich, als keiner der drei von sich aus auf uns aufmerksam wurde.

Einer der Männer blickte auf und kam zu uns herüber.

»Ja, bitte?« fragte er.

»Ich habe vorhin hier angerufen und mit einem Dr. Friedrichs gesprochen. Wegen Kevin.«

Ich blickte auf Kevin, der verschüchtert und mit gesenktem Kopf einen Meter rechts hinter mir stand, um den Mann auf ihn aufmerksam zu machen.

»Ah ja«, antwortete der Mann hinter der Theke. »Ich bin Dr. Friedrichs.«

Er sah zu Kevin hinüber.

»Sie haben aber lange gebraucht. Ich dachte schon, Sie kommen nicht mehr.«

»Ich hab noch geduscht«, antwortete Kevin leise.

Dr. Friedrichs kam noch vorne und forderte Kevin auf, sich auf eine Liege zu legen.

»Sie hatten einen Albtraum?« fragte er. Er schien nicht mehr ganz so gleichgültig zu sein, wie vorhin am Telefon.

Kevin nickte.

»Ja, war ziemlich heftig«, antwortete er.

Der Arzt überprüfte Kevins Puls und Blutdruck.

»Na, inzwischen haben Sie sich ja wieder einigermaßen beruhigt«, meinte er, nachdem er mit seiner kurzen Untersuchung fertig war.

»Er war vorhin ganz schön fertig, kaum ansprechbar«, schaltete ich mich ein. »Können Sie ihm irgendwas geben, damit es ihm besser geht?«

»Wir vermeiden hier so weit es geht Medikamente. Er scheint sich ja inzwischen ganz gut erholt zu haben.«

Der Arzt schien das Ganze nicht sonderlich ernst zu nehmen.

»Geben Sie ihm wenigstens was für die nächste Nacht«, forderte ich ihn auf.

Dr. Friedrichs wandte sich wieder Kevin zu.

»Na gut, ich werde einen Vermerk in Ihrer Akte machen. Wenn Sie möchten, können Sie sich heute Abend hier etwas holen, damit Sie besser schlafen können. Kommen Sie vorbei, bevor Sie ins Bett gehen. Aber reden Sie auf jeden Fall in der Gruppensitzung über Ihre Albträume.«

»Heute am Donnerstag haben wir keine Gruppe«, antwortete ich an Kevins Stelle.

»Ja, dann eben morgen. Das ist wirklich wichtig. Wir können Ihnen hier nicht ständig Medikamente geben. Wenn Sie eine medikamentöse Therapie möchten, sind Sie hier bei uns falsch.«

Ich wünschte sofort, der Arzt hätte die letzten Sätze nicht gesagt. Sie hatten Kevin nur unnötig unter Druck gesetzt. Als wir zurück in unserem Zimmer waren, bemerkte ich sofort die Wirkung, welche die Worte des Arztes auf Kevin gehabt hatten. Er legte sich auf sein Bett und starrte an die Decke. Wieder lernte ich eine neue Seite an ihm kennen. Er schien eher wütend zu sein als deprimiert. Als ich ihn nach einer Weile fragte, ob er mit zum Frühstück kommen wolle, blaffte er mich aggressiv an.

»Hey, geh allein und lass mich in Ruhe, okay?«

Ich ging also ohne ihn hinunter. Die Mädchen beratschlagten bereits, wie sie den freien Tag verbringen konnten. An diesem Tag war nicht nur keine Gruppentherapie, wir fünf hatten auch keinerlei andere Verpflichtungen. Viele individuelle Therapien würden ohnehin erst in der nächsten Woche beginnen. Für den Vormittag standen wieder einmal Gesellschaftsspiele auf dem Plan. Wenn wir so weitermachten, hatten wir am Ende unseres Aufenthalts das gesamte Spielesortiment der Klinik durch. Nach dem Mittagessen wollten die Mädchen dann in den Ort.

Bevor ich mit den Dreien hinüber in die Cafeteria ging, sah ich noch einmal nach Kevin.

»Wir spielen unten in der Cafeteria Risiko. Kommst du mit runter?« fragte ich ihn.

»Nein, keine Lust«, antwortete er kurz und knapp. An seiner Stimmung schien sich noch nichts geändert zu haben.

»Du kannst ja später nachkommen«, versuchte ich es noch einmal.

»Ja, in Ordnung«, erwiderte er genervt.

Ich gab es auf und ging wieder nach unten zu den Mädchen.

Nach knapp zwei Stunden tauchte er dann doch bei uns am Tisch auf. Es war bereits kurz vor elf. Schüchtern kam er auf uns zu.

»Kann ich noch mitmachen?« fragte er zögerlich.

»Klar«, antworteten Christina und Gudrun beinahe gleichzeitig und lächelten ihm zu.

Gequält lächelte er zurück. Er schien immer noch dringend etwas Aufmunterung gebrauchen zu können.

»Komm schon, setz dich«, forderte ich ihn freundlich auf.

Er nahm auf dem Stuhl neben mir Platz.

»Sorry wegen vorhin«, sagte er leise.

»Schon okay«, antwortete ich.

Er schien zumindest seine schlechte Laune überwunden zu haben. Ich hoffte, seine seelische Verfassung würde im Laufe des Tages ebenfalls besser werden.

Leider wurde meine Hoffnung enttäuscht. Er verbrachte zwar den ganzen Tag mit unserer Gruppe, blieb aber meist still und unbeteiligt. Als wir nach dem Mittagessen in den Ort liefen, trottete er nur stumm hinter uns her. Jeder Versuch, mit ihm ins Gespräch zu kommen, scheiterte kläglich. Er schenkte zwar jedem ein gequältes Lächeln, der versuchte, ihn einzubeziehen, das war aber auch schon alles.

Nach dem Abendessen verzog er sich dann aufs Zimmer, während sich der Rest unserer Gruppe wieder in die Cafeteria setzte und ein weiteres Spiel aus den Regalen hinter der Rezeption ausprobierte. Schon bald verlor ich daran die Lust. Kevin ging mir nicht aus dem Kopf. Ich hatte Angst vor der nächsten Nacht. Er würde zwar ein Schlafmittel bekommen, aber würde dies die Alpträume verhindern? Und was war mit der Nacht darauf? Wie sollte das weitergehen?

Ich verabschiedete mich von den Mädchen und ging hoch ins Zimmer. Kevin lag angezogen auf seinem Bett und starrte die Decke an. Ein Taschenbuch lag aufgeschlagen mit den Seiten nach unten neben ihm.

»Alles klar?« fragte ich. Ich wusste nicht, was ich sonst hätte sagen sollen.

Er nickte nur.

»Was liest du da?« wollte ich wissen. Ich fragte eigentlich nur, um vielleicht doch endlich wieder mit ihm ins Gespräch zu kommen.

Er zuckte mit den Schultern.

»Keine Ahnung. Kann mich nicht darauf konzentrieren.«

»Ach so.«

Es schien aussichtslos zu sein. Also legte ich mich ebenfalls auf mein Bett und nahm mir einen der Romane, die ich mitgebracht hatte. Als ich auf der dritten Seite angelangt war, stellte ich fest, dass ich mich an nichts von dem mehr erinnern konnte, was ich da eigentlich gerade gelesen hatte. Ich begann also noch einmal von vorne, doch wieder blieb das Gelesene in irgendwelchen Hirnwindungen hängen, in denen es eigentlich nichts zu suchen hatte. Entnervt legte ich das Buch zur Seite. Ich blieb auf dem Rücken liegen und betrachtete eine Weile die Struktur der weiß getünchten Raufasertapete an der Zimmerdecke.

»Scheiße, Kevin, sag endlich was«, platzte es schließlich aus mir heraus. »Ich mach mir echt Sorgen um dich.«

»Ich bin schon okay«, antwortete er leise. Seine Stimme hörte sich alles andere als überzeugend an.

»Willst du nicht endlich reden?«

»Mit dir?«

»Ja. Oder mit wem du hier halt am ehesten reden kannst.«

»Und was soll ich dir erzählen?«, fragte er hilflos.

Ich überlegte einen Moment. Eigentlich wusste ich überhaupt nicht, was ich da gerade machte.

»Naja, was halt gerade in dir vorgeht. Warum du den ganzen Tag schon so niedergeschlagen bist.«

»Das ist doch wohl klar, oder?«

»Wegen letzter Nacht. Der Albtraum und so«, stellte ich fest.

»Nicht nur.«

»Dann red doch endlich«, forderte ich ihn verzweifelt auf.

»Verdammt, ich weiß halt einfach nicht, wie es weitergehen soll. Ich bin einfach nur am Ende«, sagte er schließlich. Seine Stimme bebte.

»Ich hab eine scheiß Angst vor der nächsten Nacht. Und vor der übernächsten. Und der danach.«

»Hey, du bekommst heute doch was, damit du schlafen kannst.«

»Und morgen? Und übermorgen?«, fragte er verzweifelt. »In der Psychiatrie haben die mich wenigstens mit Medikamenten voll gepumpt. Aber hier ist es wieder genau so wie daheim. Was glaubst du, warum ich mich umbringen wollte? Ich hab die scheiß Nächte mit den ganzen Erinnerungen und diesen beschissenen Albträumen nicht mehr ausgehalten.«

»Willst du doch wieder zurück in die Psychiatrie?«, fragte ich ängstlich. Ich richtete mich auf und blickte zu ihm hinüber.

Er schüttelte den Kopf.

»Die können mich da auch nicht ewig mit Medikamenten voll stopfen. Aber am Ende wird's trotzdem darauf hinauslaufen, dass die mich wieder dorthin zurückschicken.«

Er wirkte resigniert.

»Hier können die mir ja doch nicht helfen«, meinte er.

»Hey, jetzt wart's doch erst mal ab.«

Er schüttelte wieder den Kopf.

»Als ich hier angekommen bin, hab ich echt gedacht, dass ich wieder einigermaßen mit meinem Leben klar komme, wenn ich hier wieder raus bin. Aber jetzt? Du hast ja gehört, was der Arzt heute früh gesagt hat. Ich bin hier falsch.«

»So hat er das doch nicht gemeint«, widersprach ich.

Er zuckte mit den Schultern.

»Weißt du, wie viel Überwindung es mich gekostet hat, am ersten Tag zu euch in das Gruppenzimmer zu kommen?« fragte er nach einiger Zeit.

»Nein, warum?«, erwiderte ich verwundert.

»Ihr seid da so locker dagesessen. Und ich? Ich komme direkt aus der Psychiatrie. Aus der geschlossenen Abteilung. Und hab 'nen Selbstmordversuch hinter mir. Ich bin mir vorgekommen wie so ein Aussätziger, wie ein totaler Freak.«

Ich sah hinüber zu Kevins Bett. Er lag immer noch auf dem Rücken und sah an die Decke. Jetzt konnte ich mir lebhaft vorstellen, wie er sich am ersten Tag hier gefühlt haben musste. Sein merkwürdiges Verhalten wurde mir jetzt klarer.

»Hey, das bist du aber nicht«, sagte ich.

»Ich komm mir aber so vor, Mann.«

Er machte eine kurze Pause und schüttelte verzweifelt den Kopf.

»Mensch, ich hab dich gebeten, bei mir im Bett zu schlafen, weil ich sonst nicht einschlafen kann! Und heut Morgen musstest du mir sogar beim Duschen helfen! Wie soll ich mir da normal vorkommen?«

Ich wusste nicht, was ich erwidern sollte, und zuckte nur hilflos mit den Schultern. Er starrte immer noch an die Decke und konnte mich bestenfalls aus den Augenwinkeln sehen.

»Ich hab's aber gerne gemacht«, sagte ich nach einer Weile. Was für eine total bescheuerte Antwort.

»Ja, ich kann echt froh sein, mit einem Schwulen zusammen in einem Zimmer zu wohnen, der scharf auf mich ist. Jemand anders hätte sich wahrscheinlich schon längst in ein anderes Zimmer verlegen lassen.«

Wenn ich nicht gewusst hätte, wie verzweifelt Kevin im Moment war, hätte mich dieser Satz sicher verletzt.

»Hey, ich hab das gemacht, weil ich dich mag, und nicht, weil ich mit dir ins Bett will oder scharf auf deinen nackten Körper unter der Dusche bin«, erwiderte ich.

Er sah schuldbewusst zu mir herüber, schlug dann seufzend die Hände vor sein Gesicht und schüttelte den Kopf.

»Mann, tut mir leid, ich bin echt ein Vollidiot«, sagte er nach einer Weile. »Du schlägst dir hier wegen mir die Nächte um die Ohren und kommst kaum zum Schlafen und dann rede ich auch noch so einen Bockmist.«

»Ist schon okay.«

»Nein, ist es nicht. Du bist der einzige, der hier für mich da ist. Ich bin echt froh, dass du hier bist.«

»Hey, die Mädchen mögen dich doch auch. Die wären sicher genauso für dich da. Du musst ihnen nur endlich sagen, was mit dir los ist.«

»Ach komm, die müssen mich doch inzwischen für einen totalen Spinner halten, so wie ich mich in den letzten Tagen verhalten habe.«

»Erzähl ihnen doch einfach vom Unfall deines Bruders und wie es dir seitdem geht. Dann werden sie dich sicher verstehen.«

»Meinst du?«

»Ja, klar.«

»Ich weiß nur nicht, ob ich darüber reden kann«, sagte er nach einer Weile.

»Versuch's doch einfach morgen in der Gruppensitzung«, schlug ich vor.

Kevin zuckte mit den Schultern.

»Du schaffst das schon«, machte ich ihm Mut. »Ich bin doch auch dabei. Und vielleicht geht's dir hinterher besser.«

»Okay«, sagte er schließlich.

 

Kapitel 5 - Veränderungen

Die Nacht verlief diesmal ohne Probleme. Die Schlaftablette, die Kevin sich vor dem zu Bett gehen in der Zentrale abgeholt hatte, dürfte daran nicht ganz unschuldig gewesen sein. Ich konnte endlich das Schlafdefizit der letzten beiden Nächte ausgleichen. Falls Kevin während der Nacht Albträume gehabt haben sollte, hatte ich davon zumindest nichts mitbekommen. Ich hatte die ganze Zeit über tief und fest geschlafen und Kevin konnte sich am Morgen an keine schlechten Träume erinnern.

Bis zur Therapiegruppe am Nachmittag schien sich der Tag dann endlos lang hinzuziehen. Ich nutzte jede Gelegenheit, um Kevin Mut zu machen, sich heute in der Gruppe zu öffnen. Als es dann endlich soweit war, kam aber alles ganz anders. Um es kurz zu machen, die Gruppenstunde verlief unglaublich zäh. Dies lag nicht zuletzt an unserer Psychologin, die ihre schlechte Laune nur mühsam vor der Gruppe verbergen konnte. Nachdem sie einige Kommentare zur vorherigen Stunde abgegeben hatte, mit denen keiner von uns so recht etwas anfangen konnte, schien die Stimmung im Raum irgendwie angespannt zu sein. Keiner von uns wusste so recht, was nun geschehen sollte, und wir sahen uns mehr als einmal achselzuckend an. Die immer wiederkehrende Frage von Frau Fröschl, wer denn nun etwas sagen möchte, führte jedes Mal nur kurz zu irgendwelchen mehr oder weniger belanglosen Äußerungen von Seiten der Gruppe. Dass Kevin sich in dieser Atmosphäre nicht öffnen konnte, war nur zu verständlich.

Irgendwann waren die anderthalb Stunden schließlich vorbei.

»Das lief aber recht zäh heute«, meinte Frau Fröschl am Ende. »Hoffentlich wird das nächste Woche besser, wenn Sie zu sechst sind. Ihr verschollenes Gruppenmitglied wird am Wochenende doch noch eintreffen. Vielleicht können Sie ihn ja am Sonntag vom Bahnhof abholen, damit Sie ihn gleich etwas besser kennen lernen. Sonst läuft das hier am Montag wieder so schleppend wie heute.«

Sie teilte uns mit, dass wir an der Rezeption Bescheid sagen sollten, falls wir im VW-Bus mit zum Bahnhof fahren wollten. Als sie gegangen war, blieben wir wieder noch eine Weile im Raum. Kevin ließ den Kopf hängen und ärgerte sich über sich selbst.

»Hey, dann eben am Montag«, munterte ich ihn auf.

»Na toll, wenn dann ein Neuer dabei ist, den ich noch nicht so gut kenne wie euch, wird das garantiert wieder nichts«, antwortete er niedergeschlagen.

»Was ist los?« fragte Gudrun, die uns gehört hatte.

»Ach, Kevin wollte heute eigentlich reden«, antwortete ich.

Gudrun sah Kevin mitfühlend an.

»Und ausgerechnet dann muss die Fröschl hier so 'ne miese Stimmung verbreiten«, meinte sie verständnisvoll.

Nadine und Christina hatten sich inzwischen auch zu uns gesellt.

»Irgendwie ist mir die Fröschl unsympathisch«, meinte Nadine.

»Nicht nur dir«, erwiderte ich. »Ich hab das Gefühl, das geht uns allen so.«

Ich erntete zustimmendes Nicken.

»Meinst du, du kannst reden, wenn nur wir fünf zusammen sind?« fragte Gudrun Kevin nach einer Weile.

Er zuckte mit den Schultern.

Ohne lange zu fackeln ergriff Gudrun die Initiative.

»Kommt ihr alle mit?« fragte sie uns.

Ohne zu wissen, was sie genau vorhatte, folgten wir ihr hinaus in den Aufzug. Wir fuhren ganz nach oben. Hier befand sich nur ein großer Raum mit mehreren Sitzgruppen und einer großen Glasfront, die den Blick auf das Flachdach des Klinikgebäudes freigab. Eine Tür führte hinaus auf eine Dachterrasse. Im Winter verirrte sich kaum jemand hierher. Nur ab und zu kamen ein paar Raucher herauf, um auf der Terrasse ihre Sucht zu befriedigen. Da es draußen wieder einmal kalt und ungemütlich war, bevorzugten aber auch diese heute die beiden Aufenthaltsräume, in denen Rauchen erlaubt war. Außer uns waren der Raum und die Terrasse deshalb völlig menschenleer.

Wir setzten uns an einen der Tische. Kevin nahm zwischen Gudrun und mir auf einem einigermaßen bequemen Sofa Platz, während sich Nadine und Christina auf zwei Sesseln niederließen.

»Macht's euch erst mal bequem«, sagte Gudrun. »Lass dir nur Zeit Kevin, du musst nicht gleich anfangen zu reden. Und wenn's nicht geht, ist's auch in Ordnung, okay?«

Kevin nickte dankbar.

»Und sag, wenn wir dir mit irgendwas helfen können, ja?« fuhr Gudrun fort.

»Es geht schon. Ich weiß nur nicht, mit was ich anfangen soll«, antwortete Kevin.

»Soll ich deine Hand nehmen?« fragte Gudrun ihn.

Er nickte und streckte seine rechte Hand zu ihr hinüber. Sie umschloss sie mit ihren beiden Händen und Kevin lächelte ihr dankbar zu. Als ich ihm dann noch meine Hand auf die Schulter legte, schien er tatsächlich bereit zu sein.

»Mein Bruder ist vor kurzem gestorben. Er hieß Marco und war 16, knapp zwei Jahre jünger als ich«, begann er zögerlich mit seinem Bericht. Er erzählte ausführlich von der Fahrradtour. Die beiden Brüder waren sich sehr nahe gestanden und hatten öfters etwas zu zweit unternommen. Nachdem der Unfall passiert war, hatte Kevin sofort Erste Hilfe geleistet. Nur wenige Wochen zuvor hatte er für den Führerschein einen entsprechenden Kurs absolviert. Marco war nur noch kurz bei Bewusstsein gewesen. Kevin berichtete, wie er dann auf der wenig befahrenen Straße verzweifelt auf ein Auto gewartet hatte und wie er sich schließlich mitten auf die Straße gestellt hatte, um einen Autofahrer zum Anhalten zu zwingen. Dieser hatte dann zwar sofort mit seinem Handy den Notarzt alarmiert, war danach aber eher unbeteiligt herumgestanden, während Kevin sich weiter um seinen Bruder gekümmert hatte. Die Zeit bis zum Eintreffen des Rettungswagens musste Kevin wie eine Ewigkeit erschienen sein. Als die Sanitäter endlich eingetroffen waren, hatte Kevin sich zunächst unendlich erleichtert gefühlt. Er war dann im Krankenwagen mitgefahren und irgendwann unterwegs zur Klinik hatte ihm der Notarzt dann mitgeteilt, dass sein Bruder seinen schweren Verletzungen erlegen sei. In diesem Moment musste Kevins Welt völlig zusammengebrochen sein, denn ab diesem Zeitpunkt konnte er sich an kaum noch etwas klar erinnern. Die Ankunft seiner Eltern in der Klinik hatte er nur noch verschwommen im Gedächtnis.

Als Kevin diesen Teil seines Berichtes beendet hatte, liefen ihm die Tränen herunter. Ich streichelte ihm über die Schulter und Gudrun strich ihm sanft über den Handrücken. Die beiden anderen sahen ihn mitfühlend an. Christina hatte ebenfalls Tränen in den Augen.

Kevin brauchte eine Weile, bevor er sich wieder einigermaßen gefasst hatte und weitererzählen konnte.

Von der Zeit unmittelbar nach Marcos Tod berichtete er kaum. Ich hatte das Gefühl, er konnte den Zustand, in dem er sich nach dem Tod seines Bruders befunden hatte, ohnehin kaum mit Worten beschreiben. Dafür erzählte er ein wenig von seinem Suizidversuch und der Zeit in der Psychiatrie. Als er fertig war, blieb er mit hängendem Kopf sitzen.

»Hey, du hast's geschafft«, flüsterte ich ihm zu und strich ihm sanft die Haare aus dem Gesicht.

Er sah mich an und schaffte ein gequältes Lächeln.

»Fühlst du dich jetzt besser?« fragte ich vorsichtig.

Er zuckte mit den Schultern.

»Irgendwie schon. Naja, ich weiß noch nicht.«

Ich klopfte ihm auf die Schulter.

»Komm, steh auf«, sagte ich leise. »Da sind ein paar Leute, die dich jetzt erst mal in den Arm nehmen wollen.«

Wir standen alle auf und umarmten Kevin der Reihe nach. Das schien ihm richtig gut zu tun. Er war wirklich gerührt und wusste nicht, was er sagen sollte. Danach saßen wir noch eine ganze Weile beieinander und fühlten uns zum ersten Mal richtig als Gruppe, in der jeder für den anderen da war.

Auch den gesamten Abend verbrachten wir miteinander. Obwohl wir auch diesen Abend wieder mit Gesellschaftsspielen verbrachten, war das Gefühl, das ich dabei hatte, diesmal ein völlig anderes. Ich hatte zum ersten Mal den Eindruck, mit wirklichen Freunden am Tisch zu sitzen.

Als ich mit Kevin zurück auf unser Zimmer ging, war es bereits nach Mitternacht. Ich machte mir ein wenig Sorgen, wie Kevin die Nacht ohne Schlaftablette überstehen würde. Der Tag war ziemlich aufwühlend für ihn gewesen, obwohl er ein gutes Ende genommen hatte.

»Hast du Angst vor der Nacht?« fragte ich ihn, als wir auf unseren Betten saßen.

Er zuckte nur mit den Schultern.

»Hey, ich bin da, falls du Hilfe brauchst, okay?« sagte ich. »Du kannst mich ruhig aufwecken.«

»Okay«, antwortete er. Trotzdem wirkte er wieder ein wenig bedrückt.

Während er im Bad war, fasste ich deshalb einen Entschluss. Zuerst hatte ich geplant, unsere Betten aneinander zu schieben, musste aber feststellen, dass diese mit der Wand verschraubt waren. Also räumte ich den Tisch und die Stühle an die Seite. Die freie Bodenfläche war groß genug für unsere beiden Matratzen. Als Kevin wieder aus dem Bad kam, lagen die beiden Matratzen nebeneinander auf dem Boden. Erstaunt blieb er stehen.

»Was hältst du davon?« fragte ich ihn.

Er musste grinsen.

»Sag schon«, forderte ich ihn auf. Ich war mir nicht sicher, ob ich das richtige gemacht hatte.

»Wenn du heute Nacht wieder die Ärztin für mich holen musst, dann haben wir ein Problem«, antwortete er nach einer Weile.

Sein Humor war wieder zurückgekehrt, wenn auch nur für einen kurzen Moment.

»Wenn's dir nicht gefällt oder dir irgendwie unangenehm ist, dann lassen wir's«, sagte ich.

»Nein, ist gut so«, antwortete er.

Nachdem ich ebenfalls im Bad gewesen war, legten wir uns auf die beiden Matratzen, dicht nebeneinander, aber natürlich jeder unter seiner eigenen Decke. Es dauerte nicht lange und wir waren beide eingeschlafen.

Irgendwann in der Nacht wurde ich wach. Mein Wecker stand immer noch neben meinem Bett. Hier von der auf dem Boden liegenden Matratze aus konnte ich darauf keinen Blick werfen. Kevin schlief unruhig. Ich hörte, wie er im Schlaf leise nach seinem Bruder rief. Er schien wieder einen Albtraum zu haben. Sollte ich ihn aufwecken? Oder einfach schlafen lassen und hoffen, dass er sich nach dem Aufwachen an nichts mehr erinnerte? Ich entschied mich für die zweite Alternative. Ängstlich blieb ich liegen und beobachtete Kevins Bewegungen unter der Bettdecke. Mit der Zeit schien er etwas ruhiger zu werden. Als ich bereits dachte, er würde in Kürze wieder ruhig weiterschlafen, schlug er mit einem lauten Seufzer die Augen auf.

»Alles klar?« flüsterte ich zu ihm hinüber.

Er drehte sich zu mir um und sah mich in der Dunkelheit an.

»Geht schon«, sagte er leise.

»Wirklich?«

»Ja, war nicht so schlimm diesmal.«

»Du hast im Schlaf nach deinem Bruder gerufen.«

»Wirklich?«

»Ja, ein paar Mal. Ich dachte schon, du wachst gleich auf. Du hast dich dann aber wieder etwas beruhigt.«

»Ich kann mich kaum an den Traum erinnern.«

»Sei froh!«

»Bin ich auch.«

»Meinst du, du kannst wieder einschlafen?«

Kevin zuckte mit den Schultern.

»Wie spät ist es?« wollte er wissen.

»Keine Ahnung, kann den Wecker nicht sehen.«

»Is auch egal.«

»Versuch wieder einzuschlafen, okay?«

Ich sah ihn im Dunkeln nicken. Er drehte sich auf die Seite und wandte mir den Rücken zu. Ich wollte schon wieder die Augen schließen, um ebenfalls zu versuchen, wieder Schlaf zu finden, als er mit dem Rücken näher an mich heranrutschte. Er kam bis zum Rand seiner Matratze. Wortlos rückte ich zu ihm hinüber und legte einen Arm um seinen Körper. Ich fühlte, wie er sich eng an mich herankuschelte. Irgendwann waren wir beide dann tatsächlich wieder eingeschlafen.

Als wir am Morgen aufwachten, war es bereits kurz nach neun Uhr. Kevin schien keine weiteren Albträume mehr gehabt zu haben.

»Wird Zeit, dass wir die Matratzen wieder in die Betten legen«, war einer der ersten Sätze, die er sagte. War ihm die ganze Sache inzwischen doch etwas peinlich?

Normalerweise kam irgendwann nach Neun das Reinigungspersonal in die Zimmer. Man konnte zwar das 'Bitte nicht stören'-Schild außen an die Türklinke hängen, dies hatten wir jedoch versäumt. Noch bevor wir uns anzogen, räumten wir deshalb das Zimmer auf und stellten auch Tisch und Stühle an die angestammten Plätze zurück.

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